|
Johann Gottfried Seume
|
Mein Leben
|
Veritatem sequi et colere, tueri
justitiam omnibus aeqne bene velle ac facere, nil extimescere.
Das Mißliche einer Selbstbiographie kenne ich so gut als sonst irgend jemand; und ich halte mich für nicht wichtig genug, daß überhaupt mein Leben beschrieben werde. Wenigstens wäre es nach vierzig Jahren noch Zeit genug. Ein angesehener Buchhändler bot mir vor einigen Jahren, als die Aspekte am literarischen Himmel noch besser standen, eine beträchtliche Summe, wenn ich ihm die psychologische Geschichte meiner Bildung schreiben wollte. Ich gebe mich aber nicht gern zu dergleichen Spekulationen her; und es geht etwas wider mein Wesen, auf meine Kosten, vielleicht etwas eigentümlich, einige allgemeine Wahrheiten zu sagen, die die eine Hälfte längst weiß und die andere Hälfte nicht wissen will. Folgendes hat mich indessen bestimmt, etwas über mich selbst zu sagen. Schon Herder, Gleim, Schiller und Weiße und mehrere noch Lebende haben mich aufgemuntert, nach meiner Weise die Umstände meines Lebens, das sie wohl für wichtiger hielten, als es war, schriftlich niederzulegen. Ich glaubte, das wäre im achtzigsten Jahre noch früh genug; aber meine jetzigen Gesundheitsumstände erinnern mich, es nicht zu verschieben, wenn es geschehen soll. Mehrere meiner Freunde drohen mir, wahrscheinlich genug, daß ich auf alle Fälle einem Biographen doch nicht entgehen würde: und da fürchte ich denn, einem Sudler, oder Hyperkritiker, oder gar einem schalen, geschmacklosen Lobpreiser in die Hände zu fallen. Niemand kann doch besser wissen, was an und in ihm ist, als der Mann selbst, wenn er nur redliche Unbefangenheit und Kraft genug hat, sich zu zeigen, wie er ist. Ich überlasse es jedem, der etwas von mir weiß, zu urteilen, ob das, was er von mir weiß, das Gepräge dieser Unbefangenheit und dieser Kraft trägt. Ich erzähle also ehrlich offen, ohne mich zu schonen, und nicht selten mit dem Selbstgefühl inneren Werts, und ohne den Vorwurf der Anmaßlichkeit, oder die Krittler weiter zu fürchten, die vielleicht sodann über mich nur Totengericht halten. Torheiten werde ich wohl nicht wenige und nicht geringe zu beichten haben; aber, soviel ich mir bewußt bin, keine Schlechtheit. Wenn die Erzählung unterhält und vielleicht hier und da die Jugend belehrt und in guten Grundsätzen befestigt, so habe ich nicht umsonst gelebt und geschrieben.
[...]
von andern bestätigt wurde, so gerührt, daß sie fast die Schwachheit gehabt hätte, die heimische Kreatur wieder ins Haus zu nehmen.
Mein Vater war ein zwar heftiger, moralisch-strenger, aber kein harter Mann. Im Gegenteil, seine Heftigkeit kam meistens aus schneller, tiefer moralischer Empfindung her. Das Zuchtmeisteramt im Hause überließ er fast immer meiner Mutter, und diese hatte bei ernsthaften Gelegenheiten mit einigen Worten nur nötig, den Namen des Vaters zu nennen, um alles in gutem Gleise zu erhalten. Der Vater wurde dadurch nicht als Popanz gebraucht, sondern sein strenger Ernst in ernsthaften Dingen zum gehörigen Zwecke ins Licht gestellt. Meine Geschwister haben vielleicht nie von meinem Vater einen Schlag bekommen; nur ich erinnerte mich, daß ich von ihm einmal tätig gezüchtigt worden bin auf eine schreckliche Weise, die ihn gewiß noch mehr angriff als mich; und zwar waren beide, er und ich, im Ganzen unschuldig. Er war mit meiner Mutter weg, ich glaube nach Weißenfels, gefahren und hatte uns mit einer Magd und unsern Spielgesellen allein im Hause gelassen. Unterwegs besinnt er sich, daß er den Schlüssel an einer Oberstube hat stecken lassen, auf welcher ein Tisch mit gezähltem Gelde stand, meistens in groben, harten Münzsorten. Es war zu spät umzukehren; er eilte aber desto eher nach Hause. Unterdessen waren wir in dem ganzen Hause herumgepoltert, ich mit einem halben Dutzend meiner Spießgesellen, und auch in das Zimmer, wo der Tisch mit dem Gelde stand. So viel Besinnung hatte ich doch schon als ein Bube von sechs Jahren, daß ich sagte, es sei hier für uns kein Spielplatz, auf Entfernung drang, den Schlüssel abzog und in die Tasche steckte. Ich glaubte der erste und letzte im Zimmer gewesen zu sein und hatte niemand in der Nähe des Tisches gesehen. Mein Vater kam, ging hinauf, fand den Schlüssel nicht, kam herab: »Junge, wo ist der Schlüssel zur Oberstube?« Ich zog ihn hervor; er ging wieder hinauf und zählte nach: es fehlte an der Ecke ein Guldenstück. Mit sichtbarer Verwirrung und Angst kam er wieder herunter: »Junge, wer ist im Zimmer gewesen?« »Wir alle, Vater, Jacob, Christian und die anderen; da ich aber sah, daß Geld aufgezählt war, gingen wir sogleich wieder heraus, und ich nahm den Schlüssel.« »Wer ist an den Tisch gekommen?« »Niemand als ich, um die andern abzuhalten.« »Du hast ihn also genommen!« fing er an schwach zu sprechen und zu zittern. »Ich habe nichts genommen«, antwortete ich zitternd, halb weinend. Der Worte waren wenig; er ward heftiger, ich leugnete fest und laut weinend. Er faßte mich konvulsivisch mit den Fäusten und mißhandelte mich bis zur Grausamkeit, daß auf das Geschrei meiner Mutter die Hausleute und Nachbarn herbeistürzten und mich aus seinen Händen retteten. »Andres, lieber Andres«, sagte der alte sanfte Gevatter Schulmeister Held, »Ihr seid ja außer Euch; Ihr tötet ja den Knaben; kommt doch zu Euch selbst!« »Ach Gott!« seufzte mein Vater halb weinend, warf sich in den großen Stuhl und verhüllte das Gesicht, ohne weiter ein Wort zu sagen. Die Szene ist oft nachher wieder erzählt worden und mir deswegen so lebendig geblieben. Das Fürchterliche seiner Lage in diesem Moment habe ich aus meinem eigenen Gefühl seitdem mir oft vorgestellt. Er liebte seine Kinder mit der ganzen Zärtlichkeit eines Vaters und der ganzen Heftigkeit seiner Natur; ich war sein Erstgeborener; die Nachbarschaft hielt etwas auf mich, vom Schulmeister bis zum Nachtwächter, man wird ihm also verzeihen, daß er es auch tat. Nun denke man sich einen Vater, einen ehrlichen, feinfühlenden, heftigen Mann, der seinen Liebling in einer solchen Enormität ergriffen glaubt, vor dem die schönen Hoffnungen, an denen sein besseres Wesen hängt, auf einmal verschwinden! Man nahm mich nun gütlich vor und ermahnte mich, ich sollte nur bekennen; ich hatte nichts zu bekennen. Es ist mir noch jetzt rührend, wie urväterlich der alte Schulmeister um uns besorgt war. »Lieber Pate« sagte er, »du hast dich geirrt, du willst nur mit dem Gulden spielen. Sage es nur, so ist es gut: du wirst schon einsehen lernen, was das zu bedeuten hat.« »Das sehe ich schon jetzt ein«, sprach ich, »und habe nichts getan.« Dabei blieb es. Mein Vater war von dem Tage an still in sich gekehrt, berührte die Sache nicht mehr, sah mich zuweilen halb zornig, halb wehmütig an und verbat sich alles Einreden; sprach nichts Ermahnendes, nichts Abschreckendes, sagte keines seiner Sprichwörter und war wie ein Wesen, dessen beste Kraft gelähmt ist, so daß auch meine Mutter sichtbar dabei litt: die Unruhe saß in beider Seelen. Ungefähr nach drei Wochen klärte sichs auf. Nachbars Samuelchen - ich habe seitdem den Namen weder in der Bibel noch außer der Bibel recht leiden können - wurde von seinem Vater zum Krämer geschickt, um eine Dose Schnupftabak zu holen. Er erhielt einen Gulden, um ihn wechseln zu lassen. Der Krämer hatte von ungefähr nicht so viel kleines Geld und sagte, er wolle anschreiben, er möchte den Gulden nur wieder mitnehmen und es dem Vater sagen. Sei es nun unwillkürlicher Irrtum, oder lachte der neue Gulden den Buben besser an als der vergriffene gestohlene; er gab den falschen Gulden zurück. »Halunke«, fuhr ihn der Vater an, »das ist gewiß der Gulden, der dort drüben so viel Unheil angerichtet hat.« Samuelchen bekannte und leugnete nicht und erhielt in bester Ordnung von seinem etwas härteren Vater die Peitsche in zehnfachem Maße. Meinem Vater fiel bei der Aufklärung der Sache ein schwerer Stein vom Herzen. Wer lügt, der stiehlt, war sein Sprichwort, und wer stiehlt, gehört an den Galgen. Er ward zusehends wieder heiter und suchte durch mancherlei versteckte Liebkosungen wieder Ersatz zu geben, denn öffentlich durfte das Ansehen nicht leiden. Viele Neckereien bewogen meinen Vater, seine Grundstücke dort zu verkaufen und eine Pachtung eines Wirtshauses mit beträchtlicher Ökonomie in Knautkleeberg nicht weit von Leipzig einzugehen. Da spielte ihm denn das heiße Blut hier und dort schlimme Streiche. Der Justitiarius von Posern hatte bei einer Rügensache, wo sich mein Vater fast wie Weißens Kunze mit dem Tintenfasse benommen hatte, gedroht, er müsse kein Advokat und sein Prinzipal kein Edelmann sein, wenn nicht die Sache so weit gedeihen sollte, daß der Andreas Seume noch ins Hundeloch käme für seine Ungebührlichkeiten. Ungebührlichkeiten nennt man aber alles, war irgendeinen alten Unfug antastet; und schon das feine Wort für Gefängnis zeigt hinlänglich die Natur der damaligen Patrimonialjustiz. »Ich will doch dem Teufel und seiner Hölle entlaufen«, sagte mein Vater, »und sollte ich in einer Kneipe Schuhzwecken schnitzen und Schwefelhölzchen machen mein Leben lang«; und so packte er seine Familie auf einige Wagen und pilgerte fürbaß an die Elster in der Gegend von Leipzig. Er hatte in seiner Jugend das Böttcherhandwerk gelernt, war auch mit dem Felleisen über Naumburg nach Gera und Saalfeld gewandert; da ergriff ihn aber, wie man ihm scherzhaft vorwarf, die Sehnsucht nach der Geliebten, und er eilte über Altenburg und Luckau nach Hause an der Rippach, ward Meister in der Innung und heiratete in seinem zweiundzwanzigsten Jahre stracks ohne weiteres Bedenken. Hätte er nicht etwas Vermögen gehabt und wäre genötigt gewesen, sich in der Fremde etwas umzusehen, so hätten vielleicht einige Jahre Umschauen den Feuerkopf etwas kühler gemacht; doch vielleicht hätte sich das Gefühl auch noch tiefer gesetzt und wäre nur desto bitterer geworden, wie es bei etwas mehr Bildung mir selbst gegangen ist. Der Antritt der Pachtung fiel in eine sehr unglückliche Periode, in die Hungerjahre 70 und 71. Der Besitzer des Gutes Lauer, zu dem das Dorf Knautkleeberg gehört, war der damalige Leipziger Stadtrichter, Dr. Teller, ein Bruder der bekannten Teller in Zeitz und Berlin, ein harter, unerbittlicher Mann, der von dem Buchstaben nichts nachließ und alles Unglück sehr klug dem Pächter zugestellt hatte. Vielleicht machte ihn auch das Mißliche seiner eigenen Geschäfte und sein exzentrischer Ideengang noch mißmütiger und bitterer. Man sagte damals, er sei an der Ministerkrankheit gestorben, weil ihn die Hoffnung täuschte, die Stelle als Prinzenhofmeister zu erhalten, durch welche der wackere, rechtschaffene Gutschmidt für sich und das Land eine so rühmliche Laufhahn machte. Die Eigenheiten der Brüder sind bekannt genug: der Berliner, als der vorzüglichste von ihnen, hatte am wenigsten. Mein Vater, anstatt hundert Scheffel Korn in der neuen Pachtung jährlich zu verkaufen, mußte zur Unterhaltung der weitläufigen Wirtschaft über fünfzig dazukaufen; und ich kann mich noch recht wohl erinnern, daß er den letzten Scheffel mit fünfzehn Taler bezahlte. Die Hungersnot der damaligen zwei Jahre ist in Sachsen als Landeselend bekannt. Hunger haben wir nicht gelitten, aber meines Vaters Vermögen zusammen so ziemlich verzehrt. »Solange ich noch eine Metze Korn mit dem letzten Taler kaufen kann«, sagte der wackere Mann, »muß niemand in meinem Hause ungesättigt vom Tische aufstehen.« Es war, als ob die furchtbare Teuerung doppelten Hunger erzeugt hätte; denn jedermann aß, wie man bemerken wollte, fast noch einmal so viel als gewöhnlich. Ich galt damals im Dorfe für einen sehr glücklichen Prinzen, daß ich, so viel ich wollte, herrliches Butterbrot hatte, da mancher arme Teufel hungrig, halb neidisch vorüber schlich. Da gab ich denn manchen Schnitt weg und tauschte irgendein Spielwerk oder einen Vogel dafür ein. »Junge, wirst du ewig nicht satt?« sagte einmal meine Mutter, halb froh, halb traurig, als sie mir ein frisches Butterbrot schneiden mußte; »es ist doch, als ob der Himmel seinen Segen genommen hätte auch von dem, was noch da ist.« Das es sich aber ergab, daß ich meine vorige ziemlich starke Portion für einen Hänfling weggegeben hatte, fing sie an, eine strenge Zuchtmeistermiene anzunehmen, und ich glaube wirklich, sie würde zu Birkengottfriedchen gegriffen haben, wäre nicht mein Vater dazu gekommen. Der meinte nun, es sei wohl ganz gut, daß ich mein Butterbrot verteile, nur nicht, daß ich Hänflinge, Peitschen und Platzbüchsen dafür nähme und dann komme und mir ein anderes erlüge; er könne übrigens jetzt nicht alle Hungrigen speisen und sei froh, wenn er nur seinen Haushalt leidlich gesättigt habe. »Wenn du nun selbst traurig, hungrig nach dem Butterbrot der andern sehen müßtest? Junge, wer zu dir kommt, den weise an mich oder die Mutter! Hunger tut weh, Junge, sagt man: das haben wir noch nicht erfahren; weiß der Himmel ob es nicht noch kommt! Hörst du, Junge, Hunger tut weh.« Dabei wischte er sich heimlich einige Tropfen aus den Augenwinkeln und ging und schnitt tief in ein großes Brot, um einige Zeit Sonnenschein auf finstere, niedergeschlagene Gesichter zu bringen. »Helfe euch Gott!« sagte er mit Rührung; »Bald können wir nicht mehr helfen.« Bei meinem Herrn Paten, dem Schulmeister Held in Posern, hatte ich für einen Phönix im Lernen gegolten hier bei dem Herrn Weyhrauch in Knauthayn galt ich für einen ausgemachten Dummkopf. Weiß der Himmel woher es kam: ob mir das Umsetzen wie einem jungen Baume nicht bekommen wollte, oder was sonst die Ursache war, ich hieß nur der dumme Junge von Thüringen einige Jahre lang. Herr Weyhrauch nahm es mit der Geographie nicht sehr genau, denn Posern liegt noch zwei Stunden diesseits der Saale; ich aber habe mich seit der Zeit oft allen Ernstes für einen Thüringer gehalten, zumal da ich jenseits des Stroms verschiedene Verwandte hatte und hier nie so recht einmeißnern konnte. Ich schrieb von Posern aus in meinem sechsten Jahre schon eine ziemlich leserliche Hand; aber Herr Weyhrauch fand darin weder ductum noch fructum, und ich mußte durchaus ganz von neuem seine Hopfenstangen von Buchstaben nachmalen, worin ich sehr unglücklich war, da ich zum Zeichnen fast gar kein Talent besitze. Herr Adam Weyhrauch war ein ehrlicher, wohlmeinender, braver Mann, der eine gewaltige Zeit in Halle und Leipzig hatte studieren helfen, weil ihn sein Vater Weyhrauch, ludimagister eiusdem loci, quo postea filius, mit aller Gewalt wenigstens zum Kirchenrat machen wollte. Der Tod überraschte ihn aber im sechsten Universitätsjahre des Herrn Sohnes, und er hatte noch eben Kredit beim Patron genug, da er der höheren Klerisei nicht recht trauen wollte, sich denselben zum Nachfolger auszumitteln. Der Musensohn versorgte sich stracks in Leipzig mit einem hübschen Bürgermädchen zu Tisch und Bette und fing nun an, mit allem Fleiß am Weinberge Zions zu arbeiten. Schade, daß er keine Kinder hatte, um das Geschlecht der Weyhrauche in der Schulmeisterei zu Knauthayn rühmlichst fortzupflanzen. Die Bauern meinten, sein Mangel an Produktivität dieser Art rühre von seinem großen Fleiße in Leipzig und Halle her; doch sagten sie dieses nur ganz leise, damit sein Ansehen bei der lieben Jugend nicht in Zweifel geriet. Er hatte seine liebe Not mit mir, und ich mit ihm. Ich glaubte zwar seiner Aburteilung über meine Dummheit nicht ganz, war aber doch ganz verblüfft daß ich dem Manne durchaus gar nichts zu Danke machen konnte. Lange Zeit war ich so in vermeintlichem moralischem Hinbrüten, bis sich endlich, ich weiß nicht wodurch, der Knoten löste und täglich irgend etwas Besseres zum Vorschein kam. Niemand war darüber froher als mein Vater, der schon einige Male traurig das Verdammungsurteil über meinen Geist gehört hatte. Wer zuerst etwas Ätherisches in mir entdeckte, war der Pfarrer, Magister Schmidt, ein rechtlicher, jovialer, ziemlich gebildeter und ziemlich orthodoxer Mann, in dessen Charakter aber der Grundzug freundliches Wohlwollen und Güte des Herzens war. Er schloß aus meinen oft sonderbaren Antworten in den öffentlichen Kirchenprüfungen auf meinen eigenen, zuweilen sehr barocken Ideengang, unterhielt sich viel mit mir und berichtigte meine Gedanken. Er besaß darin so viel Geschicklichkeit, als ob er in dem sokratischen geistigen Hebammeninstitut zur Lehre gegangen wäre. Nun sprach er mit dem Schulmeister, Herrn Weyhrauch, über die Methode des Unterrichts bei einem solchen Kopfe; die Einwendungen des Schulmeisters wurden gehoben; der Pfarrer zeigte ihm, daß ich kein Mechaniker und kein Schönschreiber werden und mich schwerlich mit Nachbeten begnügen würde. Man beschränkte sich nun auf die Negative und überließ die Positive mir selbst. Von nun an nahm man wenig Notiz mehr von meinen krummen und schiefen Linien auf dem Papier und meinen Stelzfüßen und Buchstaben, sondern nur von meinen Ideen, womit ich den Schulmeister und auch wohl zuweilen den Pfarrer in einige Verlegenheit setzte. In kurzer Zeit übersprang ich alle Matadorjungen der Dorfs in der Schule und ward bald der Erste und Statthalter des Herrn Weyhrauch bei dessen Abwesenheit als Bienenvater und Spargelgärtner. Die Umstände und die Gesundheit meines Vaters waren unterdessen sehr gesunken, so daß man meine bessere Anstelligkeit nicht den Gratialen und der Gunst von Hause aus zuschreiben konnte. Ich mochte ungefähr zehn Jahr alt sein, als ich schon an der Spitze der Dorfschuljugend stand, unter denen doch wohl einige ihr vierzehntes geschlossen hatten. Mein Regiment galt für sehr strenge, aber nie für ungerecht; und ich war damals der Dorfklerisei erster Minister bei Einführung der neuen Schulordnung, die zu derselben Zeit etwas strenge gehandhabt wurde. Ich erinnere mich aus dieser Periode bei eben dieser Gelegenheit eines Vorfalls, wie ich ein Märtyrer meiner Überzeugung wurde. Es war befohlen, die Kinder sollten ordentlich nach Rang und Alter in der Schule paarweise nach Hause gehen, um das wilde Herumschwärmen zu verhüten. Ich gehörte zu dem Nebendorfe Knautkleeberg und hatte die Aufsicht über meine Kolonne. Die meiste Not machte mir ein fast fünfzehnjähriges großgewachsenes Mädchen, das sich in der Schule durch Langsamkeit im Lernen und außer derselben durch vorschnelle, laute Unbändigkeit auszeichnete. Beständig war sie bald rechts, bald links aus der Reihe, bald im Grase, bald im Schotenfelde und schien des kleinen ohnmächtigen Wichtes von Führer nur zu spotten. Es dem Herrn Weyhrauch zu klagen, schien mir unter meiner Würde, zumal, da er ihrer Eltern wegen viel Nachsicht gegen sie zu zeigen schien, denn sie war die Tochter des Müllers. Als ich ihr eines Tages einige Male ohne Erfolg Ordnung geboten hatte, ergriff mich mächtig schnell der Amtseifer, daß ich hinsprang, um sie aus einem Haferfelde in Reihe und Glied zu bringen. Sie lachte und verließ sich auf ihre Gewalt; aber der Himmel weiß, wo in dem Augenblick meine Stärke herkam, ich fasse das Weibsstück beim Kragen, um sie in die Ordnung zu ziehen, schleudere sie aber aus dem Haferfelde unglücklicherweise den Berg hinab in die Sandgrube, wo sie denn gar unsafte Purzelbäume schoß und sich wenigstens Hände und Gesicht empfindlich an den Steinen zerstieß, so daß reichliches Blut quoll. Nun ging alles schüchtern nach Hause. Den Nachmittag war die liebe Mama schon klagbar eingekommen, Herr Weyhrauch mit dem Haselzepter zitierte den jungen Primus vor zum Verhör und Standrecht. Ich erzählte die Sache und bestand auf meinem Recht; nur bedauerte ich den Sturz in die Sandgrube, der nicht in meiner Absicht gelegen hatte. Der Schulmeister wollte seinem Vikar doch so viel ausübende Justizgewalt nicht zugestanden wissen und meinte, Weisung und Meldung sei sein Amt. Ich behauptete im Gegenteil, daß ich damit nicht auskommen könnte. Herr Weyhrauch glühte auf, und ich war eben nicht sehr nachgiebig; er brachte mir im Amtseifer gehörigen Orts einen tüchtigen Schilling bei. Diese Schillingsmethode war bei ihm folgende: der pädagogische Vollstrecker faßte Deliquenten mit der linken Hand beim Haarschopf und brachte den Kopf zwischen die Schenkel des Orbilius, wo er ihn an Nacken und Ohren festklemmte und mit eben dieser linken Hand schnell den Hosengurt des kleinen Sünders ergriff, woraus eine Art von Schweben entstand: sodann bearbeitete er mit der rechten, in welcher der Haselstock war, das Örtchen, auf welchem man sonst ruhig sitzen soll, quantum satis, und wohl auch ein wenig mehr. Dieser Prozeß wurde auch an mir vollzogen, und ich hatte meine Abfertigung. Beim Abmarsch nach meinem Sitze verwahrte ich mich noch mit dem Protest, ich habe doch recht getan. »Hast du?« rief Herr Weyhrauch und fing mit neuem Eifer die Exekution von vorn an. Nun schritt ich rasch an meine Tafel, hielt die Hand, wo die Kallipyge die Augen hindreht, und stieß trotzig durch die Zähne: »Ich habe doch recht getan«. Die Nachbarn lachten, und der Schulmonarch fragte despotisch, was da wäre. »Er habe doch recht getan, meint er«, sagten sie; und die Zitation begann peremptorisch von frischem. Ohne weitere Erörterung fing die Bearbeitung noch exemplarischer zum dritten Male an, und nun erst überlegten beide Parteien, Exekutor und Inkulpat, ernsthaft still, ob sie recht getan hätten. Man kann wohl denken, daß die drei Schillinge mir eine ewig frische, denkwürdige Münze sind, da sie zumal in einer Lebensperiode ausgezahlt wurden, wo jede Art Gefühl sehr lebhaft in dem treuen Gedächtnisse bleibt. Mein Vater, der den Vorfall hörte, sagte weiter nichts als sein bedenkliches Hm, und ich habe nie seine Meinung über den streitigen Punkt erfahren. Daß man, wenn man recht habe, dennoch demütig vor dem Ansehen schweigen müsse, gehörte, wie ich wußte, nicht unter seine Glaubensartikel; aber noch weniger gehörte es darunter, das nötige Ansehen des Lehrers wegen einiger Schwielen zu kompromitieren. Herr Weyhrauch mochte das Harte seiner Züchtigung meiner kleinen Hartnäckigkeit fühlen, denn er suchte es durch allerhand freundliche Aufträge, wofür mir gewöhnlich eine Belohnung von herrlichem Brot mit dem besten Honig ward, wieder in das alte Gleis zu setzen. Um diese Periode, ich glaube, es war 1775 im Sommer, starb mein Vater. Die Geschichte seiner Krankheit und seines Todes ist mir zu wichtig, als daß ich nicht einiges darüber sagen sollte.
[...]
Einige Zeit darauf wurde Anstalt gemacht, mich zum Rektor Korbinsky nach Borna zu bringen. Hier kam ich denn wie ein halber Hurone, moralisch gut gebildet, wenigstens ganz unverdorben, aber wissenschaftlich ganz roh und wild an. Der alte Herr nahm mich freundlich väterlich auf und ist von allen meinen Lehrern derjenige, dem ich am meisten verdanke. Er hatte mehrere Pensionärs, unter denen ich der älteste und unwissendste war; ausgenommen meine Bibelweisheit, in welcher mir es auch dort niemand zuvor tat. Das Haus war patriarchalisch gut, und seine Frau war mehr als meine zweite Mutter. Er gab mir kurze, gemessene, deutliche, sehr gründliche Anleitung; das Bedürfnis drängte, der Ehrgeiz spornte, und binnen einem Jahre stand ich so ziemlich mit den übrigen auf gleichem Fuße, die schon vier und fünf Jahre hier gewesen waren, und am Ende des zweiten war ich fast entschieden der erste an Kenntnissen. Der erste an der Tafel konnte ich mit Salomons Weisheit nicht werden, denn da waren zuerst Rücksichten, die ich schwer begriff und noch schwerer billigte. Das schien mir die einzige schwache Seite des guten Mannes, doch war sie bei ihm sehr unschädlich; denn es ging deutlich aus der Behandlung hervor, daß er etwas anders rangierte als man in der Klasse saß, und ich war nun schon so weit, daß immer die schweren Stellen an mich kamen. Der Rektor überließ mich mir selbst; und da war ich denn zuweilen entsetzlich fleißig und zuweilen entsetzlich faul. Das zweite übersah er zuweilen des ersten wegen, und ein Hm hm mit Kopfschütteln oder ein »Du kommst jetzt nicht vorwärts, mein Sohn!« waren hinlänglich, mich in den Gang zu bringen. Wie ich im Lateinischen und Griechischen deklinieren und konjugieren gelernt habe, weiß ich selbst kaum. Ich las und las, bis es fest blieb; dann las ich Stellen und analysierte und setzte wieder zusammen, da dann die logische Notwendigkeit sich meiner Seele aufdrang, daß es so sein müsse und auf diese Weise nicht anders sein könne. Die Ausnahmen, wenn man sie nur einige Male gelesen hatte, fielen deutlich genug in die Augen.
Hier ließ mein Bibelstudium ziemlich nach, und an dessen Stelle trat die Beschäftigung mit lateinischen Sprichwörtern, welche Weisheit des Lebens lehren. Der Rektor Korbinsky selbst hatte eine Sammlung solcher Sprichwörter in Altenburg drucken lassen; ein sehr nützliches Buch für junge Anfänger, das aber wenig bekannt zu sein scheint. Da ich im Leben schon etwas Gewandtheit besaß und mein Vater gern in Sprichwörtern redete, machte sich der Rektor ein Vergnügen, mich die Übersetzung auch sprichwörtlich versuchen zu lassen, da dann zuweilen barockes Zeug zum Vorschein kam. So kam einmal das horazische Quidquid delirant reges, plectuntur Achivi vor; der Rektor forderte es sprichwörtlich. Wenn sich die Könige raufen, müssen die Bauern Haare lassen, sagte ich. »Recht gut, recht gut!« versetzte der Rektor; »Nur etwas zu sehr vom Dorfe, etwas zu - zu -« ich verstand, er wollte sagen, zu grob. Ich entgegnete, daß das lateinische Delirant und Plectunbur eben auch nicht sanft sei, und daß man eine solche Sache recht handgreiflich sagen dürfe. »Nun gut, es mag gehen«, sagte er, da er selbst nicht gleich ein feineres Sprichwort finden konnte. Die Frau Rektorin gab sich alle ersinnliche Mühe, mich fein und artig zu machen, so wie der Herr sich bestrebte, mich zur Tugend und Weisheit zu bilden. Inwiefern es dem Rektor gelang, kommt mir nicht zu, zu bestimmen; aber ihr gelang es sehr schlecht. Mein Anzug war immer sehr nachlässig, meine Haare grotesk struppig und meine Schuhe schmutzig. Vor allem hatte sie ihren Krieg mit meiner Stirne, die ich nach ihrer Meinung unerträglich runzelte. Ehe ich mich versah, versuchte sie eine Glättung mit der Hand oder auch wohl mit der Bürste und drohte sogar mit der Striegel; aber alles umsonst. Sobald ich in Gedanken geriet und etwas Eigenes oder Fremdes ruminierte, traten die Runzeln wie Furchen auf die Stirne, und die Augenbrauen zogen sich finster zusammen. Das ist geblieben, und man hat mich oft für melancholisch mißmutig gehalten, wenn ich meine seligsten Gedanken hatte. Der Rektor nahm davon keine Notiz, da er selbst etwas von der nämlichen Unart besaß und es wahrscheinlich für ein Adiaphoron hielt. Er gab mir selbst das Zeugnis, daß ich bei ihm in zwei Jahren so viel getan habe, als andere in sechs Jahren und drang bei meinen Gönnern auf meine Entfernung, weil ich nunmehr meine Zeit besser anwenden könne und müsse. Ich hätte bei ihm noch lange, noch sehr viel lernen können; allein seine Zeit erlaubte ihm nicht, sich mit mir besonders zu beschäftigen. Doch gab er mir noch einige hebräische Stunden, so daß ich auch hierin ihm den ersten Grund dankte Ich kam sozusagen ohne die geringste Kenntnis zu Ihm und las doch meinen Cicero und ein leichtes griechisches Buch ziemlich geläufig, als ich nach zwei Jahren sein Haus verließ; nicht zu erwähnen, daß ich ihm den besten Grund in der Geschichte und Geographie und andern ernsthaften Wissenschaften verdanke. So habe ich bei niemand wieder die Reformationsgeschichte so deutlich, gründlich und pragmatisch gehört als bei ihm. Er war überhaupt in der Kirchengeschichte sehr stark, studierte unermüdlich und ließ nichts Gutes in jedem Fache ungelesen. Auch Fischer, der mehrere Reisen mit Beifall geschrieben hat, und Mahlmann sind seine Schüler, und ich zweifle nicht, sie werden gern das Wesentliche unterschreiben, was ich hier von ihm gesagt habe. Das Haus dieses Mannes nebst meines Vaters Hause sind der Grund alles Guten, was ich vielleicht in meinem Charakter habe. Ich habe erst nachher durch Vergleichung recht gefunden, wie rein die Sitten und wie fein zugleich in meines Vaters Hause waren. Ich höre jetzt oft in den besten Gesellschaften und in sonst sehr guten Häusern Gesinnungen und Ausdrücke, für die uns der Vater aus dem Hause in den Viehhof würde geschickt haben. »Dergleichen Reden schicken sich wohl bei Tische« sagte er oft fürchterlich skeptisch, wenn jemand etwas Ungesittetes äußerte, »nur nicht beim Mistladen.« Wenn das Gesinde nicht gesittet sprechen konnte, mußte es schweigen; das war mit die erste Bedingung bei der Annahme. Ohne je ein Wort Latein gelernt zu haben, übte niemand strenger als er das sit reverentia pueris! Er wußte, ich weiß nicht wie, die meisten Stellen unserer damals neuesten Dichter, und Bürgers Weiber von Weinsberg erinnere ich mich zuerst von ihm gehört zu haben, mit Varianten bei mißlichen Stellen, deren sich vielleicht kein Kritiker hätte schämen dürfen. Woher er das alles hatte, weiß ich nicht, da er wenig las und wenig Zeit dazu hatte. Bei Korbinsky wurde dieses feinere moralische Gefühl sorgsam genährt. Niemand verstand die unschuldige Eutrapelie des Lebens besser als der alte Mann. Er nannte z.B. den Schwager nie anders als Herr Bruder, die Schwägerin Frau Schwester usw., und das mit viel wahrer Herzlichkeit. Alle seine Zöglinge waren wie seine Kinder, und er nahm auch nachher den wärmsten Anteil an ihren Schicksalen. Es war ein Unglück im Hause, wenn einer seiner ehemaligen Schüler etwas getan hatte, das einem schlechten Streiche ähnlich sah. »Du lieber Gott, was soll aus dem Menschen werden? Das macht mich sehr unruhig.« Und das verderbte ihm wirklich Schlaf und Mahlzeit. Über mich soll er in der Folge oft abwechselnd getrauert und gejubelt haben, bis er sich endlich fest überzeugt habe, ich werde auf keine Weise seiner Erziehung Schande machen, glücklich oder unglücklich: dann sei er ruhig geworden. Nur das Laster hielt er mit den Alten für beweinenswertes Unglück. Der Aufenthalt bei ihm ist mir immer die schönste, reinste Erinnerung gewesen und wird es immer bleiben. Segen seiner Asche! Zuletzt wurde es aber hohe Zeit, daß ich wegkam, da ich die übrigen sehr übersah und zuweilen übermütig und üppig, zuweilen verdrießlich allein stand.
[...]
Endlich holte man mich von Borna ab und brachte mich zum Antiquar Martini nach Leipzig auf die Nikolaischule. Reiske wäre freilich besser gewesen: der war aber kurz vorher gestorben, und Martini hatte als sein Nachfolger großen Kredit gewonnen. Er mochte ihn auch als eklektischer Gelehrter und Altertumsforscher verdienen; aber Schulmann war er in einem kaum erträglichen Grade. Gleich im Examen fragte er mich Quisquilien, von denen ich ihm halb verdrießlich bemerkte, daß Herr Korbinsky mich dergleichen Dinge nicht mehr gefragt habe. Lieber wäre ich nach Pforte gewandelt, weil Klopstock dort gewesen war und einige meiner alten Kameraden sich dort befanden. Ich kam die Sekunde und hatte nun freilich wieder zu tun, um mit den andern gleichen Fuß zu fassen, zumal, da die erste und zweite Klasse gewöhnlich zusammenwaren. Auch ging das Studieren die erste Zeit, wenigstens nach meinem Sinne, recht gut, dem Rektor wollte meine Weise nicht behagen, so wenig mir die seinige, und doch sollte ich mich danach richten. Er hielt viel auf Vorbereitung, und das mit Recht, nur drang er auf sogenannte Präparierzettel, die mir sehr zuwider waren. Denn unnötiges Schreiben war gar nicht meine Sache, da ich auf einige Tage ein musterhaftes Gedächtnis hatte. »Wo haben wir unsere Präparation?« fragte er mich einmal. »Hier«, antwortete ich und zeigte auf die Stirne. »Wir sind etwas keck; wir werden ja sehen.« Sie war wirklich da, und etwas Brummen von Eigendünkel beschloß den Sermon. Ich konnte aber drei Seiten lesen, während ich einige Wörter niederkleckste, die nun doch in meinem Gedächtnisse lagen. Er hatte die Marotte der alten Schulmonarchen, die nicht höflich sind und doch nicht grob sein wollen, immer nur mit Man und Wir zu reden. Daraus entstand dann manches lächerliche Quidproquo. So sagte er einmal im hitzigen Eifer, ich glaube zum jetzigen Buchhändler Sommer: »Wir sind ein Esel.« »Ich meinerseits protestierte«, antwortete dieser ganz lakonisch, und die Klasse wußte nicht, wo sie mit dem Lachen hinsollte. Es saßen damals Haubold und Blümner und einige andere jetzt nicht unbekannte Männer mit in der Klasse, so daß schon Wetteifer des Fleißes stattfand. Auch gab uns der Konrektor Forbiger durch seine ernsthafte gründliche Methode, vorzüglich im Griechischen, reichlich Ersatz. Die weitausgebreiteten Kenntnisse des Mannes in vielen Fächern sind bekannt genug. Nur mußte er sich zu uns sehr herablassen, welches ihn zuweilen verdrießlich zu machen schien. Hübschmann, der Tertius, der uns auch einige Stunden gab, zeichnete sich durch einen großen Bierbaß aus, den er sich auf den Kirmessen erworben hatte. Wenn wir, wie wohl verzeihlich war, bei ihm über Ciceros Pflichten die Aufmerksamkeit verloren und Allotria trieben, nahm er die Sache en gros und donnerte uns in corpore an: »Lumina mundi wollt ihr werden; ja, ihr Halunken, lumpenhundi werdet ihr sein«; und damit bearbeitete er im Eifer mit Hand und Fuß und Buch das morsche Katheder.
Ich war bei dem Rektor in Wohnung und Kost und Holz verdungen, erhielt aber meinen Speiseteil durch die Magd auf mein Zimmer. Das wollte mir schon nicht behagen und schien mir illiberal, denn bei Herrn Korbinsky in Borna war ich wie ein Kind vom Hause mit allen übrigen gehalten worden. Indessen das mochte noch gehen, denn des alten Rektors Würde würde mit mir allein ein barockes tête à tête gemacht haben. Der alte Herr besuchte mich zuweilen auf meinem Zimmer, wahrscheinlich um zu sehen, wie viel ich Holz verbrannte; denn um meine Studien bekümmerte er sich weiter nicht. Nur ein einziges Mal guckte er in meinen Ovid und fand statt der Metamorphose die Amores aufgeschlagen, worüber ich dann einen stattlichen Leviten erhielt. Aber warum stand auch alles in einem Bande beisammen? Ich fand das caetera quis nescit viel leichter und erbaulicher als das in nova vert animus. Das Holz war der große Gegenstand des Zwistes, ohne daß es eben zur deutlichen Erörterung gekommen wäre. Mein Stubengeselle und Quasihofmeister war Herr Korbinsky, der älteste Sohn des Rektors in Borna, der mir noch einigen Unterricht im Hebräischen gab. Neben uns wohnten noch zwei veterane Studenten, der jetzige Professor Dindorf und der Archidiakonus in Borna, Brunnemann. Auch diese hatten sich ins Holz verdungen, und es ging ihnen wie uns. Da man uns spärlich hinlegte, langten wir selbst zu und bargen den Vorrat im Zimmer. Herr Martini entblödete sich nicht, ihn selbst wieder herauszuholen und das Holz zu verschließen. Es war ein Lattengitter davor; wir zwängten so lange, bis eine Latte losging und meine kleinere Personalität, die andern waren große, dicke, stattliche Kerle, hineinschlüpfen konnte. Nun bargen wir das Holz im Koffer unter Verschluß. Nun ließ man es in eine festverschlossene Kammer des alten Gebäudes bringen. Zum Glück oder Unglück schloß aber einer der vielen Schlüssel an den leeren offenen Kammern, und die Gaunerei ging von beiden Seiten fort. Zuletzt ließ er den Vorrat hinunter bringen, und das arme Mädchen mußte alles drei Treppen herauftragen. Auch von unten aus holte ich keck genug von Zeit zu Zeit einen Schlafrock voll; und es muß putzig anzusehen gewesen sein, wie der dicke Hebräer Dindorf und der nicht minder hebräische Korbinsky auf Schildwache standen, ich unten im Holzverschlag lauschte und mich vor dem herabrauschenden Rektor in den Keller versteckte und endlich mit einem Schlafrock voll Scheitholz die Flucht in die Höhe nahm, als der Alte schon wieder über das Tabulat herpolterte. Es wurde eine erkleckliche Summe für Heizung bezahlt, nach der damaligen Zeit, und man ließ uns vor Frost in den Dachstuben zittern, und das Ganze war doch nur Oberschuß vom Schuldeputat. Bei dieser Einrichtung waren die Klassen auch nicht überwarm; indessen das dauerte eine kurze Zeit des Tages, und eine Menge junger Leute können die Zimmer schon heiß machen. Ich kann nicht umhin, hier, trotz der Ehrlichkeit meines Wesens, die Diebsneigung meiner Natur in solchen Kleinigkeiten anzuklagen. Meine Jugend ist voll davon. Man hätte mich unter Goldhaufen sicher lassen können, ich hätte nichts angerührt; aber in dem Garten war trotz aller Verbote doch selten ein Apfelbaum, den ich nicht verstohlen dezimierte. Wenn wir Geschwister Borsdorfer Äpfel zum Braten in der Röhre hatten und sie nun vollendet gut waren, verzehrte ich sehr bald die meinigen und wußte dann die übrigen mit dem Federmesser so zu öffnen, daß der genießbare Inhalt mir zuteil ward. Griff man sie sodann an, so ging die eingeschlossene Luft ins Weite, und die Schale war leer. Wenn ich in die Wurstkammer kommen konnte, wo alles hübsch an Stangen hing, schnitt ich wohl in der Mitte der Wurst etwas heraus und spiekerte sie mit einem Hölzchen wieder ganz. Einmal jagte mich ein Bauer aus einem Schotenfelde von Knauthayn fast bis Lützen, ohne den Flüchtling erwischen zu können. Wegen dergleichen Streichen gab es viel strenge Moralen und auch wohl tätliche Züchtigungen. Nur erst, nachdem ich die Begriffe ernster sichten lernte und das Unstatthafte der Unart einsah, gewöhnte ich mir diese othaheitische Sitte ab. Wenn jeder sich diese Kleinigkeit erlauben wollte, würde dem Eigentümer bald wenigstens nicht der beste Teil zurückbleiben. Bei gewissen Gelegenheiten ist eine furchbare Strenge hierin keine Ungerechtigkeit. Wenn z.B. jeder Soldat eines marschierenden Korps eine Handvoll Kohlrüben mitnehmen wollte, wie würde man das Feld finden? Man hat also mit Recht hier und da Todesstrafe auf dergleichen Unordnungen gesetzt. Freilich ist das in unsern Tagen nicht mehr, wo die Undisziplin wieder bis zur Barbarei herabgesunken ist. Martini war bekanntlich ein guter Altertumsforscher und hatte vortreffliche Werke in diesem Fache. Die Schüler bekamen selten eins davon zu sehen, und ich lugte und guckte umsonst nach den schönen Bücherschränken, wenn ich zuweilen von ungefähr Zutritt zu dem Adyton seines Museums hatte. Ob mir gleich der Tacitus lieber war als die Prachtantiquitäten von Pompeji, so verdroß es mich doch, mich so ganz nachlässig wegwerfend als einen Laien behandelt zu sehen. Gegen mein Wesen im ganzen hatte nun der Rektor nicht viel, aber desto mehr im einzelnen gegen Kleinigkeiten, die ich sehr ungeschmeidig nach meinem und nicht nach seinem Sinne tat. »Wir sind nun wohl ziemlich fleißig«, sagte er dann und wann, »und es fehlt uns nicht an Talenten, die uns der Himmel gegeben; aber wir sind doch entsetzlich eigensinnig und hartnäckig und wollen immer mit dem Kopfe durch die Wand. Wir werden doch die Welt und ihre Formen nicht anders machen; das wollen wir nur glauben.« Da hatte nun der alte Herr ganz Recht und sprach sich und mir und der Welt zugleich das Urteil; denn er richtete sich so sehr nach der Form, daß fast das Wesen darüber verloren ging. Hier wurde dann auch gedichtert oder vielmehr nur geverselt. Seine Methode war folgende. Er versetzte ein Pensum eigener oder fremder Verse in Prosa, doch so, daß kein Oepidus dazu gehörte, zu sehen, was es gewesen war und wieder werden sollte. Dieses diktierte er und verlangte es in Versen zurück. Das Spielwerk war zu leicht und unterhaltend. Ich pflegte da oft einen Sprung zu machen und die Verse anders aufzubauen, als sie wohl mochten gewesen sein; darüber mußte meine voreilige Weisheit manchmal leiden. Zuweilen mochte ich auch wohl die Verse verdorben haben; das liegt nun so in der Natur, man stolpert einmal lieber über Felsen, als daß man immer auf gleichem Wege fortschleicht. Meine erste Poeterei war in Borna, wo wir zuweilen aus Gellert und Hagedorn so vel quasi deklamieren mußten. Das hatte mich beschäftigt, da ich sonst eben nichts zu tun hatte; ich setzte mich also hin und machte eine satirische Fabel: der Hasenschwanz. Man pflegte sich nämlich zum Abwischen der schwarzen Tafeln der Hasenpfoten oder auch wohl der kurzen Hasenschwänze zu bedienen. Nun war einer der Allumnen, der sich eben nicht durch Talente und Fleiß auszeichnete, beständig damit beschäftigt, allerhand possierliche Spielwerke mit dem Hasenpörzel zu machen. Dabei blieb der Junge ein Geck, ein Dummkopf und ein Hasenschwanz. Das war die sehr sinnreiche Erfindung, und sie erhielt ungeheueren Beifall, weil denn doch wohl seit der Schwedenzeit in der Klasse von einem Zögling nichts ähnliches war ans Licht gestellt worden. Es liefen Kopien herum; ich hoffe zu Gott, es ist keine mehr vorhanden. Die Erfindung sieht man; der Vortrag wird wohl toll genug gewesen sein, und über der Sprache, die bei mir überhaupt nicht sehr glatt ist, hätte man füglich die Schienbeine brechen können, soviel ich mich noch aus einigen Ausdrücken erinnere. Wenn ich mit Martinis Versen fertig war, fing ich nun zuweilen wohl auch noch an, eigene zu zimmern; sie fielen aber alle sehr hart und holperig aus, und ich war wohl etwas ärgerlich und neidisch, daß einer meiner Nachbarn, der das Handwerk nicht fortgesetzt hat, sie so fließend und rieselnd hervorbrachte. Der Rektor Martini kam einmal dazu, als ich eben einmal einige zu einer Feierlichkeit hatte drucken lassen, und war anfangs höchst aufgebracht über die Keckheit, wie er es billig nannte. Indessen verlängerte er den Strafsermon doch nicht weiter, nachdem er sie gelesen hatte; woraus ich schloß, das sie doch nicht so ganz hundelose in seinen Augen mochten gewesen sein. »Man sollte so etwas doch nicht unternehmen«, sagte er; »man hat noch nicht Gewandtheit und Routine genug.« Mir kam der ästhetische Urteilspruch sehr sonderbar vor nach dem, was ich schon hier und da bei den Alten und Neuern über die Sache gelesen hatte. Ich machte sogar griechische Verse, Gott sei bei uns, die nicht in der Schulordonnanz lagen, denn es wurde nur deutsch und lateinisch geverselt; in dem Deutschen meistens Alexandriner, die ich seit der Zeit nicht recht habe leiden können; und im Lateinischen verstieg man sich nicht über den Hexameter und das Distichon. Ich hatte zwar nicht das Herz, meine griechischen Verse geradezu dem Rektor zu übergeben, legte sie ihm aber doch so in den Weg, daß er sie füglich sehen konnte; er nahm aber keine Notiz davon. Seit der Zeit habe ich nur einige Male im philologischen Übermut einige gedrechselt, aber zum Glück ist keiner übriggeblieben, ob ich gleich mit einigen damals nicht übel zufrieden war und sie mit großem Wohlgefallen wohl zehnmal durchskandierte. Martini pflegte mich selten in meiner Dachstube zu besuchen; und allemal war er Aristarch, der in den Orbilius überzugehen drohte. Ich hatte, wenn ich nicht Lust hatte zu arbeiten, ein gutes Talent zu schlafen, und tat mir etwas Gütliches im Morgenschlaf, da mich vor Mitternacht die Wanzen in dem alten verdammten Baue nicht ruhen ließen. Das sagte ich ihm geradezu, und er brummte. Einmal fand ich, als ich etwas spät aufstand, von seiner Hand mit Kreide an die Stubentüre geschrieben: Sex septemve horas dormisse sat est invenique senique. Ich veränderte das ve in que; und nun lautete es: Sex septemque (sechs und sieben, also dreizehn) horas - So blieb es stehen, bis er wieder kam. »Ei seht doch die Variante«, rief er halb komisch, halb strafend; »nicht übel, gar nicht übel für Faulenzer, wie wir sind.« Hätte er den Hexameter nicht ungebührlich zum Heptameter verlängert, so hätte die Schnurre nicht stattfinden können. Hier las ich in meinem sechzehnten Jahre den ersten Roman, und zwar den Siegwart, den mir mein Vetter Hahn, ein Weißenfelser Gymnasiast, semmelwarm aus der dortigen Presse zuschickte, und zwar alle drei Bände auf einmal. Diese fertigte ich in einer Nacht ab mit ungeheuerm Heißhunger. Die erste Wirkung war auf die Phantasie gewaltig; als ich aber prüfte, fand ich schon damals alles zu sehr Spielwerk und Tändelei der Einbildungskraft, die des Menschen bessere Zeit ohne Nutzen in Beschlag nimmt. Nur das Wirkliche fing an mich zu interessieren. Warum sollen wir mit solchen leeren Dichtungen ins Blaue hinausgreifen? Ohne mich auf den Wert dieser Dichtungsart einzulassen, kehrte ich von der Konfektnäscherei immer sogleich zu der echt nährenden, gediegenen Diät der Geschichte zurück. Auch Werther, der damals erschien, fiel mir sogleich in die Hände; und ich muß bekennen, er spielte dem jungen Kopfe gewaltig mit, desto mehr, da alles dort der Geschichte so gleich ist und vielleicht meistens Geschichte ist. Da aber meine Seele noch ohne Leidenschaft aller Art war, außer dem allgemeinen Enthusiasmus für das Große, Gute und hohe Schöne, so verflog die Wirkung bald wieder, da ich die Katastrophe nicht in den Annalen der Geschichte verknüpft wiederfinden konnte. Nun hätte man glauben sollen, ich habe mit vieler Anstrengung Geschichte studiert. Das war aber auch nicht der Fall. Das Studieren war mir Bedürfnis, und war dieses gestillt, so pflegte ich fast unwillkührlich lange Zeit das Gelesene zu ruminieren, bis ich wohl zuweilen in das sogenannte selige Farniente den behaglichen, halb dunkeln, ziemlich reinen, bloßen Existenzgenuß zurücksank, der vorzüglich der Kindheit eigen ist. Lange hielt ich natürlich diesen nicht aus, und der Geist schritt zu etwas anderem. Meine Seele hat von der frühen Kindheit an unbestimmt sehr an der Natur gehangen; dies ward nun zur Neigung. Das Einfachste mir immer das Liebste; ein gutes Butterbrot und reines Wasser mein bester Genuß. Ich erinnere mich darüber eines drolligen Auftritts. Mein Vater nahm mich einmal mit nach Leipzig; ich mochte ungefähr ein Bube von sieben Jahren sein. Er traf einen alten Bekannten, und beide wurden einig, ein Frühstück in einem Italienerkeller zu nehmen. Da ich nicht Lust hatte mitzugehen und er mich nicht nötigen wollte, wies er mir eine Peripherie an, aus welcher ich nicht kommen sollte, und den Eckstein, an welchem man nach einer Viertelstunde mich wieder treffen würde, und gab mir einige Groschen, sie auf dem Markte nach meinem Belieben zu verzehren. Als er zurückkam, hatte sich noch ein Bekannter angeschlossen. »Nun, hast du auch ordentlich gefrühstückt, Junge?« fragte er mich. »Ja, Vater.« »Wie hast du denn dein Geld angewendet?« »Ich habe mir eine Semmel gekauft, und Rüben dazu.« »Was für Rüben?« fragten sie neugierig. »Solche weiße Rüben, wie sie hier haben«; antwortete ich, indem ich hin auf die Gärtner zeigte. Alle lachten laut. Für wie viel denn? »Für zwei Groschen.« »Junge, bist du toll? Für zwei Groschen weiße Rüben? Für einen Dreier bekommst du ja draußen auf dem Dorfe so viel, daß sich sechs Fuhrknechte sattessen können.« »Wo denn?« »Draußen überall.« »Ich habe nichts gesehen.« »Kannst du nicht warten, bis sie groß sind?« »Warten, ja warten«; sagte ich und kratzte mich hinter dem Ohre. Es war noch früh im Jahr, ich hätte wenigstens noch einige Monate auf mein Lieblingsgericht warten müssen. Man lachte immerfort über den Dreier für die Semmel und die zwei Groschen für weiße Rüben dazu. »Ei, so laßt doch den Jungen zufrieden«, sagte der alte Verwandte; »es ist doch wohl besser, als wenn er Pfeffernüßchen und Zuckerbrot gekauft hätte.« Ich war bloß dem Instinkt und der Neigung gefolgt; aber als man vernünftig darüber nachdachte, trat man denn doch auf meine Seite. Der nämliche Alte war auch mein Advokat gegen den Kaffee, der mir sehr zuwider war. Die ganze Familie trank ihn zum Frühstück, ich sollte also auch. »Wir werden dem jungen Herrn ein Süppchen apart kochen«, sagte meine Mutter und wollte mich zur allgemeinen Kaffeepartie nötigen. »Ei, so laßt ihn doch zufrieden«, sagte der Alte; »es wird ihm vielleicht einmal recht lieb sein, wenn er sich nicht an die verdammte Lorke gewöhnt hat.« Meine Mutter glaubte, Butterbrot und kaltes Wasser zum Frühstock ohne etwas Warmes würde mir übel bekommen, da sie aber das Gegenteil sah, ließ sie mich ruhig meinen Weg gehen. An dem Brunnen waschen und trinken war also die nämliche Partie; übrigens lief ich meistens allein in allen Dickichten herum, und kein Elsternest war mir zu hoch, ich mußte hinauf. Das setzte ich denn etwas verändert in Borna und Leipzig fort. Ich trank durchaus weder Wein noch Bier, bekümmerte mich nicht um Backwerk und feinere Gerichte; aber die schönsten Kirschen und Pflaumen wurden immer reichlich gekauft, sie mochten noch so teuer sein, und mein Aufwand darin ging für meine Umstände zuweilen fast bis zur Verschwendung. Jetzt verband ich meine Streifereien mit meinen Studien. Man sah mich seltener auf öffentlichen Promenaden sondern ich lag in irgendeinem Dickicht oder dem versteckten Winkel einer Wiese und las ohne weitere Wahl, was mir in die Hände gefallen war; selten Romane, fast ebenso selten Gedichte im Deutschen, aber desto mehr ausgesuchte Stellen aus den Römern und Griechen. Es freute mich besonders, nun bei den letzten die Schwierigkeiten überwunden zu haben und mit Leichtigkeit vorwärts zu gehen. Die eklektischen Sprüche der Alten verdrängten immer mehr die biblischen; doch hinderte das nicht die Wirkung, die auch hier und da ein tief aus der Seele gegriffenes und in die Seele gesprochenes Wort eines Hagiographen tat. In dieser Periode gab ich dem jetzigen Professor Höpfner in den Anfangsgründen der hebräischen Sprache Stunde, und wir haben nachher manchmal darüber gelacht, nachdem mir der Schüler als Herausgeber des Golius so gewaltig zu Kopfe gewachsen war. Zuweilen setzt mirs wohl der Eitelkeitsteufel in den Sinn, daß er meiner guten Unterrichtsmethode im Anfange den schnellen Fortgang nachher verdanke. Die gegenseitige Unzufriedenheit zwischen mir und dem Rektor stieg immer höher. Ich ging durchaus nicht seinen Weg, und er wollte mich den meinigen nicht gehen lassen. Moralische Fehler, außer etwas Geiz, habe ich an dem Manne nicht wahrgenommen; aber desto mehr Grillen und psychologisch-pädagogische Irrtümer und Schwachheiten. Überdies machte mir mein Stubenfreund, Herr Korbinsky, ein Schüler Fischers und ein gewaltiger Purist, dessen lateinischen Stil verdächtig; und man weiß, was eine Sünde hierin bei einem Schulrektor für ein Piakulum ist. Herr Korbinsky hätte wohl besser getan, mir darüber keine Silbe zu sagen, zumal, da die Sache ihre Richtigkeit harte. Man weiß, daß Quisquilien die Welt mehr hudeln als Sachen vom größten Belang. Um diese Zeit war ein sächsisches Lager bei Schönau, an der Straße nach Weißenfels. Nichts kitzelt einen jungen Menschen mehr als militärische Unternehmungen, wenn auch nur im Schattenriß, zu sehen, wo der menschliche Erfindungsgeist und die menschliche Kraft vereint mit furchtbarer Anstrengung für moralische, politische oder physische Existenz kämpfen. Einen Nachmittag hatte ich Erlaubnis erhalten, hinauszugehen, zu schauen. Ich hatte einen Verwandten im Lager, steckte meinen Julius Cäsar zu mir, um doch auch etwas Militärisches an mir zu haben, und wandelte auf und davon. Im Lager traf ich, ich weiß nicht wo, den Grafen Hohenthal, der mir seinen Beifall über meine Neugierde zeigte und nichts gegen meinen Wunsch hatte, die Nacht hierzubleiben und das Manöver des folgenden Tags zu sehen. Diese Erlaubnis oder Quasierlaubnis, denn eigentlich mußte sie vom Rektor kommen, dehnte ich auf zwei Nächte aus und war in einer ganz neuen Welt, an die bisher meine Phantasie nur wenig gedacht hatte. Ich hatte damals schon mathematischen Sinn genug, mich um den glänzenden, blitzenden Donnereinbruch der Reiterei weniger zu bekümmern, obgleich mein Vetter Dragoner war, und meine ganze Aufmerksamkeit auf die Behandlung und Bewegung des Geschützes und den Marsch vorzüglich der Grenadierbataillone zu richten. Das mucrone res agitur, ubi ad triarios rediit schwebte mir bei jeder Gelegenheit aus den Alten vor; und so verschieden auch unser Kriegssystem von dem ihrigen ist, hierin kommt es ganz gewiß mit demselben überein, wie die ganze Geschichte aller Feldzüge lehrt. Ohne eben Neigung zum Soldatenstande zu haben, las und studierte ich doch schon unwillkürlich solche Bücher, wo der Riesenkampf der menschlichen Natur hell und lebhaft geschildert war, und das fand ich mehr bei den Alten als bei den Neuern und finde es noch. Als ich nach Hause kam, runzelte der Rektor die Stirne und beutelte das Maul mehr als gewöhnlich, sagte aber sehr wenig, und es schien, als ob er mich als einen Refraktarium aufgegeben hätte. Da ich mein Unrecht fühlte, suchte ich durch Fleiß gutzumachen; da aber dieser Fleiß doch nicht über seinen Stock geschlagen war, konnte ich damit nichts gewinnen. Ich erhielt um die nämliche Zeit ein Schulstipendium von zehn Talern. »Wir haben zwar Talente und sind nicht müßig«, sagte er mir beim Auszahlen; »aber unsere Sitten haben diese Belohnung kaum verdient.« Nun machte er Miene, das Sümmchen wieder einzustreichen und es mir zu vier und vier Groschen gelegentlich für die kleinen Bedürfnisse zuzustellen, als ich ihm sagte, der Graf, mein Wohltäter, wolle mir dieses Geld als Aufmunterung zur eigenen Verwendung überlassen und für das übrige Sorge tragen. Das schien er nicht zu billigen, wollte aber doch nichts dagegen haben. Ich erhielt das Geld; und da das für mich eine ungeheuere Summe war, dünkte ich mir damit wenigstens ein Krösus zu sein. Vor allen Dingen wurde Obst gekauft, dann Bücher, hier und da einem Armen reichlicher mitgeteilt; dann ging es zum ersten Male in die Komödie. Man kann denken, wie lange und wie weit ich reichte. Meine Mutter brauchte damals nichts und wollte durchaus nichts als eine Kleinigkeit nehmen, um meine Gutmütigkeit nicht zu beleidigen, wie sie sich ausdrückte. Da sie von meinen Bedürfnissen wenig verstand, so konnte sie über meine Verwendung bestimmt weder Billigung noch Mißbilligung äußern. Man denke, wie ich kaufte, ich glaube vom jetzigen Professor Schäfer, der mein Schulnachbar war, eine Geschichte oder Geographie in neunzehn Bänden, ich weiß nicht von welchem alten Knaster, für einen Speziestaler. Schäfer war froh, daß er das Schweinsleder los wurde, um Platz zu bekommen; und doch studierte ich in den Schwarten so ungeheuer, um die Lücken auszufüllen, daß ich wirklich glaube, ich habe daraus mehr gelernt als aus manchem langen Kollegio von viel Zeit und für viel Geld. Als ich anfing, das Buch taxieren zu lernen, schaffte ich es mit wenig Verlust und viel Gewinn wieder fort. Das erste Theaterstück, das ich sah, war Ariadne auf Naxos von Benda, die damals neu war. Der bekannte mythologische Text rührte mich wenig, aber desto mehr die allgewaltige Magie der Musik, verbunden mit der schönen Darstellung und der mir ganz neuen zauberähnlichen Maschinerie. Das letzte verschwand bald, aber die Wirkung der Musik blieb und ist geblieben; und noch jetzt kenne ich in der ganzen Peripherie meiner musikalischen Literatur nichts Lieblicheres als Bendas Morgenröthe und nichts Malerischeres als seinen Sonnenaufgang in diesem Stücke. Noch jetzt, wenn es mir bei musikalischen Freunden recht heimisch gemütlich ist, pflege ich zum höchsten Genuß eines seligen Viertelstündchens mit dem Notenbuche in der Hand zu kommen: »Kinder, bringt mir die Morgenröte und laßt mir die Sonne aufgehen!« und nach dem Vortrage und der Aufnahme dieser Stellen die Seelen zu beurteilen. Die Theaterneigung bemächtigte sich bald meiner bis zur Epidemie, vorzüglich, als ich zur Akademie überging. Der letzte Vorfall, der wahrscheinlich meine Entfernung von der Schule bestimmte, war folgender. Wir lasen Xenophons Denkwürdigkeiten; ich mochte wohl etwas zerstreut gewesen sein, der Rektor war wegen einer andern Veranlassung schon aufgebracht und heftig; er wendete sich unversehens und kurz zu mir und verlangte die grammatische Auflösung eines schweren Wortes: ich machte sie; er schien schon in der Übereilung zu sein und fuhr mich hart epanorthotisch an: »Man ist nie, wo man sein soll; es ist der Infinitiv in diesem und diesem Tempus.« Es war freilich augenscheinlich der Infinitiv, über das Tempus war Differenz. Er fuhr im Hermeneutisieren fort, ich setzte mich, brummte ungläubig und suchte meine alte Grammatik aus dem Winkel hervor, wo ich denn fand, daß ich Recht hatte. Das zeigte ich höchst wahrscheinlich selbstgefällig genug meinem Nachbar: »Was hat man schon wieder?« stürzte der Rektor auf mich zu. »Herr Rektor«, erwiderte ich ganz gelassen, »ich wollte mich bloß überzeugen, daß ich Recht hatte.« Das brachte den Mann ganz aus seiner Fassung, er stürmte und wütete und wollte mich ins Karzer führen lassen. »Herr Rektor, bedenken Sie«, sagte ich ganz ruhig, »es könnte einige Folgen haben.« Er überlas die Periode noch einmal, besann sich und ließ mich ohne Antwort sitzen. Die ganze Klasse war stutzig. Ich wollte heut noch die Stelle im Buche wieder finden. Nach der Stunde ließ er mich rufen, stellte mir etwas gelinde meine widerspenstige Sinnesart vor und gab mit einigen philosophischen Apophthegmen seinen Irrtum zu. Die Neckerei und das halbe Subordinationswesen war mir höchlich zuwider; ich kam förmlich mit der Bitte beim Grafen ein, mich noch einige Zeit nach Grimma oder Pforte zu schicken, hier würde ich nunmehr meine Zeit ohne großen Nutzen zubringen. Man war anfangs mir meiner Unzufriedenheit eher unzufrieden, mochte aber doch bei näherer Nachfrage finden, daß ich so ganz Unrecht nicht hatte, und beschloß eine Änderung zu machen. Auch wenn ich nicht Recht gehabt hätte, wie das vielleicht hier und da der Fall war, forderte es die richtige, psychologische Pädagogik, meinen Wünschen nachzugeben und es auf eine andere Weise mit mir zu versuchen. Außer etwas Chorgesang in den öffentlichen Stunden hatte man mich weiter keine Musik treiben lassen, und ich sah daraus, daß man es mit mir nicht auf die Schulmeisterei anlegte. Ohne eben damit unzufrieden zu sein, bedauerte ich doch im Stillen, daß ich eine so ganz unmusikalische Seele bleiben sollte, zumal da ich glaubte und noch glaube, daß in meinem Geiste sehr viel sehr schöne eigentümliche Musik zu wecken gewesen wäre. Ich selbst konnte den zweckmäßigen Unterricht nicht erschwingen. Ich gerate bei lebendigen, tiefgegriffenen und tief eindringenden, einfach großen Stellen in die größte Rührung, wie das bei Mozart und Haydn und Händel und Bach und einigen andern oft der Fall ist; und eine lange, bloß künstliche Tonverstrickung läßt mich unbeschäftigt und leer. Man schickte mich zu Morus und Wolf in die Prüfung. Der erste ist nachher immer mein guter väterlicher Lehrer geblieben und ward sodann mein Freund bis an seinen Tod; es wäre unnötig, hier seinen moralischen und wissenschaftlichen Wert zu preisen. Von dem zweiten, der ein vortrefflicher Lateiner als Ernestis Schüler war, hielt mich die strenge asketische Orthodoxie des Mannes mehr entfernt. Was sie meinen Kenntnissen für ein Zeugnis gaben, weiß ich nicht, ich erhielt es versiegelt; es kann aber nicht ungünstig gewesen sein, denn statt mich noch auf eine Schule zu schicken, wurde ich sogleich auf die Universität getan. Und so war ich denn in einer Zeit von ungefähr drei Jahren ein wilder, unwissender Landjunge, ein gänzlicher Analphabet und Leipziger Student; das ging freilich ein wenig rasch. »Alles recht gut«, sagte mir der wackere Forbiger, als ich Abschied nahm, »nur etwas zu früh!« ein Urteil, das ich selbst gern unterschrieb. Martini entließ mich mit Kälte und Würde, ohne jetzt weitere Empfindlichkeit zu äußern. Korbinsky blieb mein Stubenkamerad und Studienleiter, ohne weitere Verbindlichkeit auf beiden Seiten. Ich danke der Gesellschaft dieses Mannes manche bessere Einsichten in die Alten und manchen guten Wink, den ich nachher benutzte.
|