Erster Teil (1785)
Dieser psychologische Roman könnte auch allenfalls eine Biographie genannt werden, weil die Beobachtungen größtenteils aus dem wirklichen Leben genommen sind. – Wer den Lauf der menschlichen Dinge kennt und weiß, wie dasjenige oft im Fortgange des Lebens sehr wichtig werden kann, was anfänglich klein und unbedeutend schien, der wird sich an die anscheinende Geringfügigkeit mancher Umstände, die hier erzählt werden, nicht stoßen. Auch wird man in einem Buche, welches vorzüglich die innere Geschichte des Menschen schildern soll, keine große Mannigfaltigkeit der Charaktere erwarten: denn es soll die vorstellende Kraft nicht verteilen, sondern sie zusammendrängen und den Blick der Seele in sich selber schärfen. – Freilich ist dies nun keine so leichte Sache, daß gerade jeder Versuch darin glücken muß – aber wenigstens wird doch vorzüglich in pädagogischer Rücksicht das Bestreben nie ganz unnütz sein, die Aufmerksamkeit des Menschen mehr auf den Menschen selbst zu heften und ihm sein individuelles Dasein wichtiger zu machen.
In Pyrmont, einem Orte, der wegen seines Gesundbrunnens berühmt ist, lebte noch im Jahre 1756 ein Edelmann auf seinem Gute, der das Haupt einer Sekte in Deutschland war, die unter dem Namen der Quietisten oder Separatisten bekannt ist, und deren Lehren vorzüglich in den Schriften der Mad. Guion, einer bekannten Schwärmerin, enthalten sind, die zu Fénelons Zeiten, mit dem sie auch Umgang hatte, in Frankreich lebte.
Der Herr von Fleischbein, so hieß dieser Edelmann, wohnte hier von allen übrigen Einwohnern des Orts und ihrer Religion, Sitten und Gebräuchen ebenso abgesondert, wie sein Haus von den ihrigen durch eine hohe Mauer geschieden war, die es von allen Seiten umgab.
Dies Haus nun machte für sich eine kleine Republik aus, worin gewiß eine ganz andre Verfassung als rund umher im ganzen Lande herrschte. Das ganze Hauswesen bis auf den geringsten Dienstboten bestand aus lauter solchen Personen, deren Bestreben nur dahin ging oder zu gehen schien, in ihr ‘Nichts’ (wie es die Mad. Guion nennt) wieder einzugehen, alle Leidenschaften zu ‘ertöten’ und alle ‘Eigenheit’ auszurotten.
Alle diese Personen mußten sich täglich einmal in einem großen Zimmer des Hauses zu einer Art von Gottesdienst versammlen, den der Herr von Fleischbein selbst eingerichtet hatte, und welcher darin bestand, daß sie sich alle um einen Tisch setzten und mit zugeschloßnen Augen, den Kopf auf den Tisch gelegt, eine halbe Stunde warteten, ob sie etwa die Stimme Gottes oder das ‘innre Wort’ in sich vernehmen würden. Wer dann etwas vernahm, der machte es den übrigen bekannt.
Der Herr von Fleischbein bestimmte auch die Lektüre seiner Leute, und wer von den Knechten oder Mägden eine müßige Viertelstunde hatte, den sahe man nicht anders als mit einer von der Mad. Guion Schriften, vom ‘innern Gebet’ oder dergleichen, in der Hand in einer nachdenkenden Stellung sitzen und lesen.
Alles bis auf die kleinsten häuslichen Beschäftigungen hatte in diesem Hause ein ernstes, strenges und feierliches Ansehn. In allen Mienen glaubte man ‘Ertötung’ und ‘Verleugnung’ und in allen Handlungen ‘Ausgehen aus sich selbst’ und ‘Eingehen ins Nichts’ zu lesen.
Der Herr von Fleischbein hatte sich nach dem Tode seiner ersten Gemahlin nicht wieder verheiratet, sondern lebte mit seiner Schwester, der Frau von Prüschenk, in dieser Eingezogenheit, um sich dem großen Geschäfte, die Lehren der Mad. Guion auszubreiten, ganz und ungestört widmen zu können.
Ein Verwalter, namens H., und eine Haushälterin mit ihrer Tochter machten gleichsam den mittlern Stand des Hauses aus, und dann folgte das niedrige Gesinde. – Diese Leute schlossen sich wirklich fest aneinander, und alles hatte eine unbegrenzte Ehrfurcht gegen den Herrn von Fleischbein, der wirklich einen unsträflichen Lebenswandel führte, obgleich die Einwohner des Orts sich mit den ärgerlichsten Geschichten von ihm trugen.
Er stand jede Nacht dreimal zu bestimmten Stunden auf, um zu beten, und bei Tage brachte er seine meiste Zeit damit zu, daß er die Schriften der Mad. Guion, deren eine große Anzahl von Bänden ist, aus dem Französischen übersetzte, die er denn auf seine Kosten drucken ließ und sie umsonst unter seine Anhänger austeilte.
Die Lehren, welche in diesen Schriften enthalten sind, betreffen größtenteils jenes schon erwähnte völlige Ausgehen aus sich selbst und Eingehen in ein seliges Nichts, jene gänzliche Ertötung aller sogenannten ‘Eigenheit’ oder ‘Eigenliebe’ und eine völlig uninteressierte Liebe zu Gott, worin sich auch kein Fünkchen Selbstliebe mehr mischen darf, wenn sie rein sein soll, woraus denn am Ende eine vollkommne, selige ‘Ruhe’ entsteht, die das höchste Ziel aller dieser Bestrebungen ist.
Weil nun die Mad. Guion sich fast ihr ganzes Leben hindurch mit nichts als mit Bücherschreiben beschäftigt hat, so sind ihrer Schriften eine so erstaunliche Menge, daß selbst Martin Luther schwerlich mehr geschrieben haben kann. Unter andern macht allein eine mystische Erklärung der ganzen Bibel wohl an zwanzig Bände aus.
Diese Mad. Guion mußte viel Verfolgung leiden und wurde endlich, weil man ihre Lehrsätze für gefährlich hielt, in die Bastille gesetzt, wo sie nach einer zehnjährigen Gefangenschaft starb. Als man nach ihrem Tode ihren Kopf öffnete, fand man ihr Gehirn fast wie ausgetrocknet. Sie wird übrigens noch itzt von ihren Anhängern als eine Heilige der ersten Größe beinahe göttlich verehrt, und ihre Aussprüche werden den Aussprüchen der Bibel gleich geschätzt; weil man annimmt, daß sie durch gänzliche Ertötung aller ‘Eigenheit’ so gewiß mit Gott sei vereinigt worden, daß alle ihre Gedanken auch notwendig göttliche Gedanken werden mußten.
Der Herr von Fleischbein hatte die Schriften der Mad. Guion auf seinen Reisen in Frankreich kennen gelernt, und die trockne, metaphysische Schwärmerei, welche darin herrscht, hatte für seine Gemütsbeschaffenheit so viel Anziehendes, daß er sich ihr mit eben dem Eifer ergab, womit er sich wahrscheinlich unter andern Umständen dem höchsten Stoizismus würde ergeben haben, womit die Lehren der Mad. Guion in Ansehung der gänzlichen Ertötung aller Begierden usw. oft eine auffallende Ähnlichkeit haben.
Er wurde nun auch von seinen Anhängern ebenfalls wie ein Heiliger verehrt und ihm wirklich zugetrauet, daß er beim ersten Anblick das Innerste der Seele eines Menschen durchschauen könne.
Zu seinem Hause geschahen Wallfahrten von allen Seiten, und unter denen, die jährlich wenigstens einmal dieses Haus besuchten, war auch Antons Vater.
Dieser, ohne eigentliche Erziehung aufgewachsen, hatte seine erste Frau sehr früh geheiratet, immer ein ziemlich wildes, herumirrendes Leben geführt, wohl zuweilen einige fromme Rührungen gehabt, aber nicht viel darauf geachtet. Bis er nach dem Tode seiner ersten Frau plötzlich in sich geht, auf einmal tiefsinnig und, wie man sagt, ein ganz andrer Mensch wird und bei seinem Aufenthalt in Pyrmont zufälligerweise erstlich den Verwalter des Herrn von Fleischbein und nachher durch diesen den Herrn von Fleischbein selber kennen lernte.
Dieser gibt ihm denn nach und nach die Guionschen Schriften zu lesen, er findet Geschmack daran und wird bald ein erklärter Anhänger des Herrn von Fleischbein.
Demohngeachtet fiel es ihm ein, wieder zu heiraten, und er machte mit Antons Mutter Bekanntschaft, welche bald in die Heirat willigte, das sie nie würde getan haben, hätte sie die Hölle von Elend vorausgesehen, die ihr im Ehestande drohete. Sie versprach sich von ihrem Manne noch mehr Liebe und Achtung, als sie vorher bei ihren Anverwandten genossen hatte, aber wie entsetzlich fand sie sich betrogen.
So sehr die Lehre der Mad. Guion von der gänzlichen Ertötung und Vernichtung aller, auch der sanften und zärtlichen Leidenschaften mit der harten und unempfindlichen Seele ihres Mannes übereinstimmte, so wenig war es ihr möglich, sich jemals mit diesen Ideen zu verständigen, wogegen sich ihr Herz auflehnte.
Dies war der erste Keim zu aller nachherigen ehelichen Zwietracht.
Ihr Mann fing an, ihre Einsichten zu verachten, weil sie die hohen Geheimnisse nicht fassen wollte, die die Mad. Guion lehrte.
Diese Verachtung erstreckte sich nachher auch auf ihre übrigen Einsichten, und je mehr sie dies empfand, je stärker mußte notwendig die eheliche Liebe sich vermindern und das wechselseitige Mißvergnügen aneinander mit jedem Tage zunehmen.
Antons Mutter hatte eine starke Belesenheit in der Bibel und eine ziemlich deutliche Erkenntnis von ihrem Religionssystem, sie wußte z.E. sehr erbaulich davon zu reden, daß der Glaube ohne Werke tot sei, usw.
In der Bibel las sie wirklich zu ganzen Stunden mit innigem Vergnügen, aber sobald ihr Mann es versuchte, ihr aus den Guionschen Schriften vorzulesen, so empfand sie eine Art von Bangigkeit, die vermutlich aus der Vorstellung entstand, sie werde dadurch in dem rechten Glauben irregemacht werden.
Sie suchte sich alsdann auf alle Weise loszumachen. – Hiezu kam nun noch, daß sie vieles von der Kälte und dem lieblosen Wesen ihres Mannes auf Rechnung der Guionschen Lehre schrieb, die sie nun in ihrem Herzen immer mehr zu verwünschen anfing, und bei dem völligen Ausbruch der ehelichen Zwietracht sie laut verwünschte.
So wurde der häusliche Friede und die Ruhe und Wohlfahrt einer Familie jahrelang durch diese unglücklichen Bücher gestört, die wahrscheinlich einer so wenig wie der andere verstehen mochte.
Unter diesen Umständen wurde Anton geboren, und von ihm kann man mit Wahrheit sagen, daß er von der Wiege an unterdrückt ward.
Die ersten Töne, die sein Ohr vernahm und sein aufdämmernder Verstand begriff, waren wechselseitige Flüche und Verwünschungen des unauflöslich geknüpften Ehebandes.
Ob er gleich Vater und Mutter hatte, so war er doch in seiner frühesten Jugend schon von Vater und Mutter verlassen, denn er wußte nicht, an wen er sich anschließen, an wen er sich halten sollte, da sich beide haßten und ihm doch einer so nahe wie der andre war.
In seiner frühesten Jugend hat er nie die Liebkosungen zärtlicher Eltern geschmeckt, nie nach einer kleinen Mühe ihr belohnendes Lächeln.
Wenn er in das Haus seiner Eltern trat, so trat er in ein Haus der Unzufriedenheit, des Zorns, der Tränen und der Klagen.
Diese ersten Eindrücke sind nie in seinem Leben aus seiner Seele verwischt worden und haben sie oft zu einem Sammelplatze schwarzer Gedanken gemacht, die er durch keine Philosophie verdrängen konnte.
Da sein Vater im Siebenjährigen Kriege mit zu Felde war, zog seine Mutter zwei Jahre lang mit ihm auf ein kleines Dorf.
Hier hatte er ziemliche Freiheit und einige Entschädigung für die Leiden seiner Kindheit.
Die Vorstellungen von den ersten Wiesen, die er sahe, von dem Kornfelde, das sich einen sanften Hügel hinanerstreckte und oben mit grünem Gebüsch umkränzt war, von dem blauen Berge und den einzelnen Gebüschen und Bäumen, die am Fuß desselben auf das grüne Gras ihren Schatten warfen und immer dichter und dichter wurden, je höher man hinaufstieg, mischen sich noch immer unter seine angenehmsten Gedanken und machen gleichsam die Grundlage aller der täuschenden Bilder aus, die oft seine Phantasie sich vormalt.
Aber wie bald waren diese beiden glücklichen Jahre entflohen!
Es ward Friede, und Antons Mutter zog mit ihm in die Stadt zu ihrem Manne.
Die lange Trennung von ihm verursachte ein kurzes Blendwerk ehelicher Eintracht, aber bald folgte auf die betrügliche Windstille ein desto schrecklicherer Sturm.
Antons Herz zerfloß in Wehmut, wenn er einem von seinen Eltern unrecht geben sollte, und doch schien es ihm sehr oft, als wenn sein Vater, den er bloß fürchtete, mehr recht habe als seine Mutter, die er liebte.
So schwankte seine junge Seele beständig zwischen Haß und Liebe, zwischen Furcht und Zutrauen zu seinen Eltern hin und her.
Da er noch nicht acht Jahr alt war, gebar seine Mutter einen zweiten Sohn, auf den nun vollends die wenigen Überreste väterlicher und mütterlicher Liebe fielen, so daß er nun fast ganz vernachlässiget wurde und sich, sooft man von ihm sprach, mit einer Art von Geringschätzung und Verachtung nennen hörte, die ihm durch die Seele ging.
Woher mochte wohl dies sehnliche Verlangen nach einer liebreichen Behandlung bei ihm entstehen, da er doch derselben nie gewohnt gewesen war und also kaum einige Begriffe davon haben konnte?
Am Ende freilich ward dies Gefühl ziemlich bei ihm abgestumpft; es war ihm beinahe, als müsse er beständig gescholten sein, und ein freundlicher Blick, den er einmal erhielt, war ihm ganz etwas Sonderbares, das nicht recht zu seinen übrigen Vorstellungen passen wollte.
Er fühlte auf das innigste das Bedürfnis der Freundschaft von seinesgleichen: und oft, wenn er einen Knaben von seinem Alter sahe, hing seine ganze Seele an ihm, und er hätte alles drum gegeben, sein Freund zu werden; allein das niederschlagende Gefühl der Verachtung, die er von seinen Eltern erlitten, und die Scham wegen seiner armseligen, schmutzigen und zerrißnen Kleidung hielten ihn zurück, daß er es nicht wagte, einen glücklichern Knaben anzureden.
So ging er fast immer traurig und einsam umher, weil die meisten Knaben in der Nachbarschaft ordentlicher, reinlicher und besser wie er gekleidet waren und nicht mit ihm umgehen wollten, und die es nicht waren, mit denen mochte er wieder wegen ihrer Liederlichkeit und auch vielleicht aus einem gewissen Stolz keinen Umgang haben.
So hatte er keinen, zu dem er sich gesellen konnte, keinen Gespielen seiner Kindheit, keinen Freund unter Großen noch Kleinen.
Im achten Jahre fing denn doch sein Vater an, ihn selber etwas lesen zu lehren, und kaufte ihm zu dem Ende zwei kleine Bücher, wovon das eine eine Anweisung zum Buchstabieren und das andre eine Abhandlung gegen das Buchstabieren enthielt.
In dem ersten mußte Anton größtenteils schwere biblische Namen, als: Nebukadnezar, Abednego usw., bei denen er auch keinen Schatten einer Vorstellung haben konnte, buchstabieren. Dies ging daher etwas langsam.
Allein, sobald er merkte, daß wirklich vernünftige Ideen durch die zusammengesetzten Buchstaben ausgedrückt waren, so wurde seine Begierde, lesen zu lernen, von Tage zu Tage stärker.
Sein Vater hatte ihm kaum einige Stunden Anweisung gegeben, und er lernte es nun zur Verwunderung aller seiner Angehörigen in wenig Wochen von selber.
Mit innigem Vergnügen erinnert er sich noch itzt an die lebhafte Freude, die er damals genoß, als er zuerst einige Zeilen, bei denen er sich etwas denken konnte, durch vieles Buchstabieren mit Mühe herausbrachte.
Nun aber konnte er nicht begreifen, wie es möglich sei, daß andre Leute so geschwind lesen konnten, wie sie sprachen; er verzweifelte damals gänzlich an der Möglichkeit, es je so weit zu bringen.
Um desto größer war nun seine Verwunderung und Freude, da er auch dies nach einigen Wochen konnte.
Auch schien ihn dieses bei seinen Eltern, noch mehr aber bei seinen Anverwandten in einige Achtung zu setzen, welches von ihm zwar nicht unbemerkt blieb, aber doch nie die eigentliche Ursach ward, die ihn zum Fleiß anspornete.
Seine Begierde zu lesen war nun unersättlich. Zum Glücke standen in dem Buchstabierbuche außer den biblischen Sprüchen auch einige Erzählungen von frommen Kindern, die mehr wie hundertmal von ihm durchgelesen wurden, ob sie gleich nicht viel Anziehendes hatten.
Die eine handelte von einem sechsjährigen Knaben, der zur Zeit der Verfolgung die christliche Religion nicht verleugnen wollte, sondern sich lieber auf das entsetzlichste peinigen und nebst seiner Mutter als ein Märtyrer für die Religion sein Leben ließ; die andre von einem bösen Buben, der sich im zwanzigsten Jahre seines Lebens bekehrte und bald darauf starb.
Nun kam auch das andre kleine Buch an die Reihe, worin die Abhandlung gegen das Buchstabieren stand, und er zu seiner großen Verwunderung las, daß es schädlich, ja seelenverderblich sei, die Kinder durch Buchstabieren lesen zu lehren.
In diesem Buche fand er auch eine Anweisung für Lehrer, die Kinder lesen zu lehren, und eine Abhandlung über die Hervorbringung der einzelnen Laute durch die Sprachwerkzeuge: so trocken ihm dieses schien, so las er es doch aus Mangel an etwas Besserm mit der größten Standhaftigkeit nach der Reihe durch.
Durch das Lesen war ihm nun auf einmal eine neue Welt eröffnet, in deren Genuß er sich für alle das Unangenehme in seiner wirklichen Welt einigermaßen entschädigen konnte. Wenn nun rund um ihn her nichts als Lärmen und Schelten und häusliche Zwietracht herrschte oder er sich vergeblich nach einem Gespielen umsah, so eilte er hin zu seinem Buche.
So ward er schon früh aus der natürlichen Kinderwelt in eine unnatürliche idealistische Welt verdrängt, wo sein Geist für tausend Freuden des Lebens verstimmt wurde, die andre mit voller Seele genießen können.
Schon im achten Jahre bekam er eine Art von auszehrender Krankheit. Man gab ihn völlig auf, und er hörte beständig von sich wie von einem, der schon wie ein Toter beobachtet wird, reden. Dies war ihm immer lächerlich oder vielmehr war ihm das Sterben selbst, wie er sich damals vorstellte, mehr etwas Lächerliches als etwas Ernsthaftes. Seine Base, der er doch etwas lieber wie seinen Eltern zu sein schien, ging endlich mit ihm zu einem Arzt, und eine Kur von einigen Monaten stellte ihn wieder her.
Kaum war er einige Wochen gesund, als ihn gerade bei einem Spaziergange mit seinen Eltern auf das Feld, der ihm sehr etwas Seltnes und eben daher desto reizender war, der linke Fuß an zu schmerzen fing. Dies war nach überstandner Krankheit sein erster und sollte auf lange Zeit sein letzter Spaziergang sein.
Am dritten Tage war die Geschwulst und Entzündung am Fuße schon so gefährlich geworden, daß man am vierten zur Amputation schreiten wollte. Antons Mutter saß und weinte, und sein Vater gab ihm zwei Pfennige. Dies waren die ersten Äußerungen des Mitleids gegen ihn, deren er sich von seinen Eltern erinnert, und die wegen der Seltenheit einen desto stärkern Eindruck auf ihn machten.
An dem Tage vor der beschloßnen Amputation kam ein mitleidiger Schuster zu Antons Mutter und brachte ihr eine Salbe, durch deren Gebrauch sich die Geschwulst und Entzündung im Fuße während wenigen Stunden legte. Zum Fußabnehmen kam es nun nicht, aber der Schaden dauerte demohngeachtet vier Jahre lang, ehe er geheilt werden konnte, in welcher Zeit unser Anton wiederum unter oft unsäglichen Schmerzen alle Freuden der Kindheit entbehren mußte.
Bei diesem Schaden konnte er zuweilen ein ganzes Vierteljahr nicht aus dem Hause gehen, nachdem er eine Weile zuheilte und immer wieder aufbrach.
Oft mußte er ganze Nächte hindurch wimmern und klagen und die abscheulichsten Schmerzen fast alle Tage beim Verbinden erdulden. Dies entfernte ihn natürlicherweise noch mehr aus der Welt und von dem Umgange mit seinesgleichen und fesselte ihn immer mehr an das Lesen und an die Bücher. Am häufigsten las er, wenn er seinen jüngern Bruder wiegte, und wann es ihm damals an einem Buche fehlte, so war es, als wenn es ihm itzt an einem Freunde fehlt: denn das Buch mußte ihm Freund und Tröster und alles sein.
Im neunten Jahre las er alles, was Geschichte in der Bibel ist, vom Anfange bis zu Ende durch; und wenn einer von den Hauptpersonen, als Moses, Samuel oder David, gestorben war, so konnte er sich tagelang darüber betrüben, und es war ihm dabei zumute, als sei ihm ein Freund abgestorben, so lieb wurden ihm immer die Personen, die viel in der Welt getan und sich einen Namen gemacht hatten.
So war Joab sein Held, und es schmerzte ihn, sooft er schlecht von ihm denken mußte. Insbesondre haben ihn oft die Züge der Großmut in Davids Geschichte, wenn er seines ärgsten Feindes schonte, da er ihn doch in seiner Gewalt hatte, bis zu Tränen gerührt.
Nun fiel ihm das Leben der Altväter in die Hände, welches sein Vater sehr hochschätzte, und diese Altväter bei jeder Gelegenheit als Autoritäten anführte. So fingen sich gemeiniglich seine moralischen Reden an: die Madam Guion spricht, oder der heilige Makarius oder Antonius sagt usw.
Die Altväter, so abgeschmackt und abenteuerlich oft ihre Geschichte sein mochte, waren für Anton die würdigsten Muster zur Nachahmung, und er kannte eine Zeitlang keinen höhern Wunsch, als seinem großen Namensgenossen, dem heiligen Antonius, ähnlich zu werden und wie dieser Vater und Mutter zu verlassen und in eine Wüste zu fliehen, die er nicht weit vom Tore zu finden hoffte, und wohin er einmal wirklich eine Reise antrat, indem er sich über hundert Schritte weit von der Wohnung seiner Eltern entfernte und vielleicht noch weiter gegangen wäre, wenn die Schmerzen an seinem Fuße ihn nicht genötigt hätten, wieder zurückzukehren. Auch fing er wirklich zuweilen an, sich mit Nadeln zu pricken und sonst zu peinigen, um dadurch den heiligen Altvätern einigermaßen ähnlich zu werden, da es ihm doch ohnedem an Schmerzen nicht fehlte.
Während dieser Lektüre ward ihm ein kleines Buch geschenkt, dessen eigentlichen Titel er sich nicht erinnert, das aber von einer frühen Gottesfurcht handelte und Anweisung gab, wie man schon vom sechsten bis zum vierzehnten Jahre in der Frömmigkeit wachsen könne. Die Abhandlungen in diesem Büchelchen hießen also: ‘Für Kinder von sechs Jahren’, ‘Für Kinder von sieben Jahren’ usw. Anton las also den Abschnitt ‘Für Kinder von neun Jahren’ und fand, daß es noch Zeit sei, ein frommer Mensch zu werden, daß er aber schon drei Jahre versäumt habe.
Dies erschütterte seine ganze Seele, und er faßte einen so festen Vorsatz sich zu bekehren, wie ihn wohl selten Erwachsene fassen mögen. Von der Stunde an befolgte er alles, was von Gebet, Gehorsam, Geduld, Ordnung usw. in dem Buche stand, auf das pünktlichste und machte sich nun beinahe jeden zu schnellen Schritt zur Sünde. Wie weit, dachte er, werde ich nun nicht schon in fünf Jahren sein, wenn ich hierbei bleibe. Denn in dem kleinen Buche war das Fortrücken in der Frömmigkeit gleichsam zu einer Sache des Ehrgeizes gemacht, wie man etwa sich freuet, aus einer Klasse in die andere immer höher gestiegen zu sein.
Wenn er, wie natürlich, sich zuweilen vergaß und einmal, wenn er Linderung an seinem Fuße fühlte, umhersprang oder lief, so fühlte er darüber die heftigsten Gewissensbisse, und es war ihm immer, als sei er nun schon einige Stufen wieder zurückgekommen.
Dieses kleine Buch hatte lange einen starken Einfluß auf seine Handlungen und Gesinnungen: denn was er las, das suchte er auch gleich auszuüben. Daher las er auf jeden Tag in der Woche sehr gewissenhaft den Abend- und Morgensegen, weil im Katechismus stand, man müsse ihn lesen; auch vergaß er nicht, das Kreuz dabei zu machen und ‘das walte’ zu sagen, wie es im Katechismus befohlen war.
Sonst sahe er nicht viel von Frömmigkeit, ob er gleich immer viel davon reden hörte und seine Mutter ihn alle Abende einsegnete und niemals vergaß, ehe er einschlief, das Zeichen des Kreuzes über ihn zu machen.
Der Herr von Fleischbein hatte unter andern die geistlichen Lieder der Madam Guion ins Deutsche übersetzt, und Antons Vater, der musikalisch war, paßte ihnen Melodien an, die größtenteils einen raschen, fröhlichen Gang hatten.
Wenn es sich nun fügte, daß er etwa einmal nach einer langen Trennung wieder zu Hause kam, so ließ sich denn doch die Ehegattin überreden, einige dieser Lieder mitzusingen, wozu er die Zither spielte. Dies geschahe gemeiniglich kurz nach der ersten Freude des Wiedersehens, und diese Stunden mochten wohl noch die glücklichsten in ihrem Ehestande sein.
Anton war dann am frohesten und stimmte oft, so gut er konnte, in diese Lieder ein, die ein Zeichen der so seltnen wechselseitigen Harmonie und Übereinstimmung bei seinen Eltern waren.
Diese Lieder gab ihm nun sein Vater, da er ihn für reif genug zu dieser Lektüre hielt, in die Hände und ließ sie ihn zum Teil auswendig lernen.
Wirklich hatten diese Gesänge, ohngeachtet der steifen Übersetzung, immer noch so viel Seelenschmelzendes, eine so unnachahmliche Zärtlichkeit im Ausdrucke, solch ein sanftes Helldunkel in der Darstellung und so viel unwiderstehlich Anziehendes für eine weiche Seele, daß der Eindruck, den sie auf Antons Herz machten, bei ihm unauslöschlich geblieben ist.
Oft tröstete er sich in einsamen Stunden, wo er sich von aller Welt verlassen glaubte, durch ein solches Lied vom seligen Ausgehen aus sich selber und der süßen Vernichtung vor dem Urquelle des Daseins.
So gewährten ihm schon damals seine kindischen Vorstellungen oft eine Art von himmlischer Beruhigung.
Einmal waren seine Eltern bei dem Wirt des Hauses, wo sie wohnten, des Abends zu einem kleinen Familienfeste gebeten. Anton mußte es aus dem Fenster mit ansehen, wie die Kinder der Nachbarn schön geputzt zu diesem Feste kamen, indes er allein auf der Stube zurückbleiben mußte, weil seine Eltern sich seines schlechten Aufzuges schämten. Es wurde Abend, und ihn fing an zu hungern; und nicht einmal ein Stückchen Brot hatten ihm seine Eltern zurückgelassen.
Indes er oben einsam saß und weinte, schallte das fröhliche Getümmel von unten zu ihm herauf. – Verlassen von allem, fühlte er erst eine Art von bitterer Verachtung gegen sich selbst, die sich aber plötzlich in eine unaussprechliche Wehmut verwandelte, da er zufälligerweise die Lieder der Madam Guion aufschlug und eins fand, das gerade auf seinen Zustand zu passen schien. – Eine solche Vernichtung, wie er in diesem Augenblick fühlte, mußte nach dem Liede der Madam Guion vorhergehen, um sich in dem Abgrunde der ewigen Liebe wie ein Tropfen im Ozean zu verlieren. – – Allein, da nun der Hunger anfing, ihm unausstehlich zu werden, so wollten auch die Tröstungen der Madam Guion nichts mehr helfen, und er wagte es, hinunterzugehen, wo seine Eltern in großer Gesellschaft schmauseten, öffnete ein klein wenig die Türe und bat seine Mutter um den Schlüssel zum Speiseschranke und um die Erlaubnis, sich ein wenig Brot nehmen zu dürfen, weil ihn sehr hungere.
Dies erweckte erst das Gelächter und nachher das Mitleid der Gesellschaft nebst einigen Unwillen gegen seine Eltern.
Er ward mit an den Tisch gezogen und ihm von dem Besten vorgelegt, welches ihm denn freilich eine ganz andre Art von Freude als vorher die Guionschen Trostlieder gewährte.
Allein auch jene schwermutsvolle tränenreiche Freude behielt immer etwas Anziehendes für ihn, und er überließ sich ihr, indem er die Guionschen Lieder las, sooft ihm ein Wunsch fehlgeschlagen war oder ihm etwas Trauriges bevorstand, als wenn er z.B. vorher wußte, daß sein Fuß verbunden und die Wunde mit Höllenstein bestrichen werden sollte.
Das zweite Buch, was ihn sein Vater nebst den Guionschen Liedern lesen ließ, war eine ‘Anweisung zum innern Gebet’ von eben dieser Verfasserin.
Hierin ward gezeigt, wie man nach und nach dahin kommen könne, sich im eigentlichen Verstande mit Gott zu unterreden und seine Stimme im Herzen, oder das eigentliche ‘innre Wort’, deutlich zu vernehmen; indem man sich nämlich zuerst soviel wie möglich von den Sinnen loszumachen und sich mit sich selbst und seinen eignen Gedanken zu beschäftigen suchte oder meditieren lernte, welches aber auch erst aufhören und man sich selbst sogar erst vergessen müsse, ehe man fähig sei, die Stimme Gottes in sich zu vernehmen.
Dies ward von Anton mit dem größten Eifer befolgt, weil er wirklich begierig war, so etwas Wunderbares als die Stimme Gottes in sich zu hören.
Er saß daher halbe Stunden lang mit verschloßnen Augen, um sich von der Sinnlichkeit abzuziehen. Sein Vater tat dieses zum größten Leidwesen seiner Mutter ebenfalls. Auf Anton aber achtete sie nicht, weil sie ihn zu keiner Absicht fähig hielt, die er dabei haben könne.
Anton kam bald so weit, daß er glaubte, von den Sinnen ziemlich abgezogen zu sein, und nun fing er an, sich wirklich mit Gott zu unterreden, mit dem er bald auf einen ziemlich vertraulichen Fuß umging. Den ganzen Tag über bei seinen einsamen Spaziergängen, bei seinen Arbeiten und sogar bei seinem Spiele sprach er mit Gott, zwar immer mit einer Art von Liebe und Zutrauen, aber doch so, wie man ohngefähr mit einem seinesgleichen spricht, mit dem man eben nicht viel Umstände macht, und ihm war es denn wirklich immer, als ob Gott dieses oder jenes antwortete.
Freilich ging es nicht so ab, daß es nicht zuweilen einige Unzufriedenheit sollte gesetzt haben, wenn etwa ein unschuldiges Spielwerk oder sonst ein Wunsch vereitelt ward. Dann hieß es oft: aber mir auch diese Kleinigkeit nicht einmal zu gewähren! oder: das hättest du doch wohl können geschehen lassen, wenn’s irgend möglich gewesen wäre! und so nahm es sich denn Anton nicht übel, zuweilen ein wenig mit Gott nach seiner Art böse zu tun; denn obgleich davon nichts in der Madam Guion Schriften stand, so glaubte er doch, es gehöre mit zum vertraulichen Umgange.
Alle diese Veränderungen gingen mit ihm vom neunten bis zum zehnten Jahre vor. Während dieser Zeit nahm ihn auch sein Vater wegen des Schadens am Fuße mit nach dem Gesundbrunnen in Pyrmont. Wie freute er sich nun, den Herrn von Fleischbein persönlich kennen zu lernen, von dem sein Vater beständig mit solcher Ehrfurcht wie von einem übermenschlichen Wesen geredet hatte, und wie freute er sich, dort von seinen großen Fortschritten in der innern Gottseligkeit Rechenschaft ablegen zu können: seine Einbildungskraft malte ihm dort eine Art von Tempel, worin er auch als Priester eingeweiht und als ein solcher zur Verwunderung aller, die ihn kannten, zurückkehren würde.
Er machte nun mit seinem Vater die erste Reise, und während derselben war dieser auch etwas gütiger gegen ihn und gab sich mehr mit ihm ab als zu Hause. Anton sahe hier die Natur in unaussprechlicher Schönheit. Die Berge rund umher in der Ferne und in der Nähe und die lieblichen Täler entzückten seine Seele und schmolzen sie in Wehmut, die teils aus der Erwartung der großen Dinge entstand, die hier mit ihm vorgehen sollten.
Der erste Gang mit seinem Vater war in das Haus des Herrn von Fleischbein, wo dieser den Verwalter, Herrn H., zuerst sprach, ihn umarmte und küßte und auf das freundschaftlichste von ihm bewillkommt wurde.
Ohngeachtet der großen Schmerzen, die Anton durch die Reise an seinem Fuße empfand, war er doch beim Eintritt in das Haus des Herrn von Fleischbein vor Freuden außer sich. Anton blieb diesen Tag in der Stube des Herrn H., mit dem er künftig alle Abend speisen mußte. Übrigens bekümmerte man sich doch im Hause lange nicht so viel um ihn, wie er erwartet hatte.
Seine Übungen im innern Gebet setzte er nun sehr fleißig fort; allein es konnte denn freilich nicht fehlen, daß sie nicht zuweilen eine sehr kindische Wendung nehmen mußten. Hinter dem Hause, wo sein Vater in Pyrmont logierte, war ein großer Baumgarten: hier fand er zufälligerweise einen Schiebkarren und machte sich das Vergnügen, damit im ganzen Garten herumzuschieben.
Um dies nun aber zu rechtfertigen, weil er anfing, es für Sünde zu halten, bildete er sich eine ganz sonderbare Grille. Er hatte nämlich in den Guionschen Schriften und anderwärts viel von dem Jesulein gelesen, von welchem gesagt wurde, daß es allenthalben sei und man beständig und an allen Orten mit ihm umgehen könne.
Das Diminutivum machte, daß er sich einen Knaben, noch etwas kleiner wie er, darunter vorstellte, und da er nun mit Gott selber schon so vertraut umging, warum nicht noch viel mehr mit diesem seinen Sohne, dem er zutraute, daß er sich nicht weigern werde, mit ihm zu spielen, und also auch nichts dawider haben werde, wenn er ihn ein wenig auf den Schiebkarren herumfahren wollte.
Nun schätzte er es sich aber doch für ein sehr großes Glück, eine so hohe Person auf den Schiebkarren herumfahren zu können und ihr dadurch ein Vergnügen zu machen; und da diese Person nun ein Geschöpf seiner Einbildungskraft war, so machte er auch mit ihr, was er wollte, und ließ sie oft kürzer, oft länger an dem Fahren Gefallen finden, sagte auch wohl zuweilen mit der größten Ehrerbietigkeit, wenn er vom Fahren müde war: so gern ich wollte, ist es mir doch jetzt unmöglich, dich noch länger zu fahren.
So sahe er dies am Ende für eine Art von Gottesdienst an und hielt es nun für keine Sünde mehr, wenn er sich auch halbe Tage mit dem Schiebkarren beschäftigte.
Nun aber bekam er selbst mit Bewilligung des Herrn von Fleischbein ein Buch in die Hand, das ihn wieder in eine ganz andre und neue Welt führte. Es war die Acerra philologika. Hier las er nun die Geschichte von Troja, vom Ulysses, von der Circe, vom Tartarus und Elysium und war sehr bald mit allen Göttern und Göttinnen des Heidentums bekannt. Bald darauf gab man ihm auch den Telemach ebenfalls mit Bewilligung des Herrn von Fleischbein zu lesen, vielleicht weil der Verfasser desselben, Herr von Fénelon, mit der Madam Guion Umgang hatte.
Die Acerra philologika war ihm zur Lektüre des Telemach eine schöne Vorbereitung gewesen, weil er dadurch mit der Götterlehre ziemlich bekannt geworden war und sich schon für die meisten Helden interessierte, die er im Telemach wiederfand.
Diese Bücher wurden verschiedne Male nacheinander mit der größten Begierde und mit wahrem Entzücken von ihm durchgelesen, insbesondere der Telemach, worin er zum ersten Male die Reize einer schönen zusammenhängenden Erzählung schmeckte.
Die Stelle, welche ihn im ganzen Telemach am lebhaftesten gerührt hat, war die rührende Anrede des alten Mentors an den jungen Telemach, als dieser auf der Insel Cypern die Tugend mit dem Laster zu vertauschen im Begriff war, und ihm nun sein getreuer, lange von ihm für verloren gehaltener Mentor plötzlich wieder erschien, dessen traurender Anblick ihn bis in das Innerste seiner Seele erschütterte.
Dies hatte nun freilich für Antons Seele weit mehr Anziehendes als die biblische Geschichte und alles, was er vorher in dem Leben der Altväter oder in den Guionschen Schriften gelesen hatte; und da ihm nie eigentlich gesagt worden war, daß jenes wahr und dieses falsch sei, so fand er sich gar nicht ungeneigt, die heidnische Göttergeschichte mit allem, was da hineinschlug, wirklich zu glauben.
Ebensowenig konnte er aber auch, was in der Bibel stand, verwerfen; um soviel mehr, da dies die ersten Eindrücke auf seine Seele gewesen waren. Er suchte also, welches ihm allein übrigblieb, die verschiedenen Systeme, so gut er konnte, in seinem Kopfe zu vereinigen und auf diese Weise die Bibel mit dem Telemach, das Leben der Altväter mit der Acerra philologika und die heidnische Welt mit der christlichen zusammenzuschmelzen.
Die erste Person in der Gottheit und Jupiter, Kalypso und die Madam Guion, der Himmel und Elysium, die Hölle und der Tartarus, Pluto und der Teufel machten bei ihm die sonderbarste Ideenkombination, die wohl je in einem menschlichen Gehirn mag existiert haben.
Dies machte einen so starken Eindruck auf sein Gemüt, daß er noch lange nachher eine gewisse Ehrfurcht gegen die heidnischen Gottheiten behalten hat.
Von dem Hause, wo Antons Vater logierte, bis nach dem Gesundbrunnen und der Allee dabei war ein ziemlich weiter Weg. Anton schleppte sich demohngeachtet mit seinem schmerzenden Fuße, das Buch unterm Arm, hinaus und setzte sich auf eine Bank in der Allee, wo er im Lesen nach und nach seinen Schmerz vergaß und bald nicht nur auf der Bank in Pyrmont, sondern auf irgendeiner Insel mit hohen Schlössern und Türmen oder mitten im wilden Kriegsgetümmel sich befand.
Mit einer Art von wehmütiger Freude las er nun, wenn Helden fielen, es schmerzte ihn zwar, aber doch deuchte ihn, sie mußten fallen.
Dies mochte auch wohl einen großen Einfluß auf seine kindischen Spiele haben. Ein Fleck voll hochgewachsener Nesseln oder Disteln waren ihm so viele feindliche Köpfe, unter denen er manchmal grausam wütete und sie mit seinem Stabe einen nach dem andern herunterhieb.
Wenn er auf der Wiese ging, so machte er eine Scheidung und ließ in seinen Gedanken zwei Heere gelber oder weißer Blumen gegeneinander anrücken. Den größten unter ihnen gab er Namen von seinen Helden, und eine benannte er auch wohl von sich selber. Dann stellte er eine Art von blinden Fatum vor, und mit zugemachten Augen hieb er mit seinem Stabe, wohin er traf.
Wenn er dann seine Augen wieder eröffnete, so sah er die schreckliche Zerstörung, hier lag ein Held und dort einer auf den Boden hingestreckt, und oft erblickte er mit einer sonderbaren wehmütigen und doch angenehmen Empfindung sich selbst unter den Gefallenen.
Er betrauerte dann eine Weile seine Helden und verließ das fürchterliche Schlachtfeld. Zu Hause, nicht weit von der Wohnung seiner Eltern, war ein Kirchhof, auf welchem er eine ganze Generation von Blumen und Pflanzen mit eisernem Zepter beherrschte und keinen Tag hingehen ließ, wo er nicht mit ihnen eine Art von Musterung hielt.
Als er von Pyrmont wieder nach Hause gereist war, schnitzte er sich alle Helden aus dem Telemach von Papier, bemalte sie nach den Kupferstichen mit Helm und Panzer und ließ sie einige Tage lang in Schlachtordnung stehen, bis er endlich ihr Schicksal entschied und mit grausamen Messerhieben unter ihnen wütete, diesem den Helm, jenem den Schädel zerspaltete und rund um sich her nichts als Tod und Verderben sahe.
So liefen alle seine Spiele, auch mit Kirsch- und Pflaumkernen, auf Verderben und Zerstörung hinaus. Auch über diese mußte ein blindes Schicksal walten, indem er zwei verschiedne Arten als Heere gegeneinander anrücken und nun mit zugemachten Augen den eisernen Hammer auf sie herabfallen ließ, und wen es traf, den traf’s.
Wenn er Fliegen mit der Klappe totschlug, so tat er dieses mit einer Art von Feierlichkeit, indem er einer jeden mit einem Stücke Messing, das er in der Hand hatte, vorher die Totenglocke läutete. Das allergrößte Vergnügen machte es ihm, wenn er eine aus kleinen papiernen Häusern erbauete Stadt verbrennen und dann nachher mit feierlichem Ernst und Wehmut den zurückgebliebenen Aschenhaufen betrachten konnte.
Ja, als in der Stadt, wo seine Eltern wohnten, einmal wirklich in der Nacht ein Haus abbrannte, so empfand er bei allem Schreck eine Art von geheimen Wunsche, daß das Feuer nicht so bald gelöscht werden möchte.
Dieser Wunsch hatte nichts weniger als Schadenfreude zum Grunde, sondern entstand aus einer dunklen Ahndung von großen Veränderungen, Auswanderungen und Revolutionen, wo alle Dinge eine ganz andre Gestalt bekommen und die bisherige Einförmigkeit aufhören würde.
Selbst der Gedanke an seine eigne Zerstörung war ihm nicht nur angenehm, sondern verursachte ihm sogar eine Art von wollüstiger Empfindung, wenn er oft des Abends, ehe er einschlief, sich die Auflösung und das Auseinanderfallen seines Körpers lebhaft dachte.
Antons dreimonatlicher Aufenthalt in Pyrmont war ihm in vieler Rücksicht sehr vorteilhaft, weil er fast immer sich selbst überlassen war und das Glück hatte, diese kurze Zeit wieder von seinen Eltern entfernt zu sein, indem seine Mutter zu Hause geblieben war und sein Vater andre Geschäfte in Pyrmont hatte und sich nicht viel um ihn bekümmerte; doch aber sich hier, wenn er ihn zuweilen sahe, weit gütiger als zu Hause gegen ihn betrug.
Auch logierte mit Antons Vater in demselben Hause ein Engländer, der gut Deutsch sprach und sich mit Anton mehr abgab, wie irgendeiner vor ihm getan hatte, indem er anfing, ihn durch bloßes Sprechen Englisch zu lehren und sich über seine Progressen freute. Er unterredete sich mit ihm, ging mit ihm spazieren und konnte am Ende fast gar nicht mehr ohne ihn sein.
Dies war der erste Freund, den Anton auf Erden fand: mit Wehmut nahm er von ihm Abschied. Der Engländer drückte ihm bei seiner Abreise ein silbern Schaustück in die Hand, das sollte er ihm zum Andenken aufbewahren, bis er einmal nach England käme, wo ihm sein Haus offen stände: nach funfzehn Jahren kam Anton wirklich nach England und hatte noch sein Schaustück bei sich, aber der erste Freund seiner Jugend war tot.
Anton sollte einmal diesen Engländer gegen einen Fremden, der ihn besuchen wollte, verleugnen und sagen, er sei nicht zu Hause. Man konnte ihn auf keine Weise dazu bringen, weil er keine Lüge begehen wollte.
Dies wurde ihm damals sehr hoch angerechnet und war just einer der Fälle, wo er tugendhafter scheinen wollte, als er wirklich war, denn er hatte sich sonst eben aus einer Notlüge nicht so sehr viel gemacht; aber seinen wahren innern Kampf, wo er oft seine unschuldigsten Wünsche einem eingebildeten Mißfallen des göttlichen Wesens aufopferte, bemerkte niemand.
Indes war ihm das liebreiche Betragen, das man in Pyrmont gegen ihn bewies, sehr aufmunternd und erhob seinen niedergedrückten Geist ein wenig. Wegen seiner Schmerzen am Fuße bezeugte man ihm Mitleid, im von Fleischbeinschen Hause begegnete man ihm leutselig, und der Herr von Fleischbein küßte ihn auf die Stirne, sooft er ihm auf der Straße begegnete. Dergleichen Begegnungen waren ihm ganz etwas Ungewohntes und Rührendes, das seine Stirne wieder freier, sein Auge offner und seine Seele heitrer machte.
Er fing nun auch an, sich auf die Poesie zu legen, und besang, was er sah und hörte. Er hatte zwei Stiefbrüder, die beide in Pyrmont das Schneiderhandwerk lernten, und deren Meister ebenfalls Anhänger der Lehre des Herrn von Fleischbein waren. Von diesen nahm er in Versen, die er selbst gemacht und auswendig gelernt hatte, sehr rührend Abschied, sowie auch von dem von Fleischbeinschen Hause.
Freilich kehrte er nun nicht so wieder von Pyrmont zu Hause, wie er erwartet hatte, aber doch war er in dieser kurzen Zeit ein ganz andrer Mensch geworden und seine Ideenwelt um ein Großes bereichert.
Allein zu Hause wurden durch die erneuerte Zwietracht seiner Eltern, wozu vermutlich die Ankunft seiner beiden Stiefbrüder vieles beitrug, und durch das unaufhörliche Schelten und Toben seiner Mutter die guten Eindrücke, die er in Pyrmont und besonders in dem von Fleischbeinschen Hause erhalten hatte, bald wieder ausgelöscht, und er befand sich aufs neue in seiner vorigen gehässigen Lage, wodurch seine Seele ebenfalls finster und menschenfeindlich gemacht wurde.
Da Antons beide Stiefbrüder bald abreiseten, um ihre Wanderschaft anzutreten, so war auch der häusliche Friede eine Zeitlang wiederhergestellt, und Antons Vater las nun zuweilen selber anstatt aus der Madam Guion Schriften etwas aus dem Telemach vor oder erzählte ein Stück aus der ältern oder neuern Geschichte, worin er wirklich ziemlich bewandert war; denn neben seiner Musik, worin er es im Praktischen weit gebracht hatte, machte er beständig aus dem Lesen nützlicher Bücher ein eignes Studium, bis endlich die Guionschen Schriften alles übrige verdrängten.
Er redete daher auch eine Art von Büchersprache, und Anton erinnert sich noch sehr genau, wie er im siebenten oder achten Jahre oft sehr aufmerksam zuhörte, wann sein Vater sprach, und sich wunderte, daß er von allen den Wörtern, die sich auf ‘heit’ und ‘keit’ und ‘ung’ endigten, keine Silbe verstand, da er doch sonst, was gesprochen wurde, verstehen konnte.
Auch war Antons Vater außer dem Hause ein sehr umgänglicher Mann und konnte sich mit allerlei Leuten über allerlei Materien angenehm unterhalten. Vielleicht wäre auch alles im Ehestande besser gegangen, wenn Antons Mutter nicht das Unglück gehabt hätte, sich oft für beleidigt und gern für beleidigt zu halten, auch wo sie es wirklich nicht war, um nur Ursach zu haben, sich zu kränken und zu betrüben und ein gewisses Mitleid mit sich selber zu empfinden, worin sie eine Art von Vergnügen fand.
Leider scheint sich diese Krankheit auf ihren Sohn fortgeerbt zu haben, der jetzt noch oft vergeblich damit zu kämpfen hat.
Schon als Kind, wenn alle etwas bekamen und ihm sein Anteil hingelegt wurde, ohne dabei zu sagen, es sei der seinige, so ließ er ihn lieber liegen, ob er gleich wußte, daß er für ihn bestimmt war, um nur die Süßigkeit des Unrechtleidens zu empfinden und sagen zu können, alle andren haben etwas und ich nichts bekommen!
Da er eingebildetes Unrecht schon so stark empfand, um so viel stärker mußte er das wirkliche empfinden. Und gewiß ist wohl bei niemanden die Empfindung des Unrechts stärker als bei Kindern, und niemanden kann auch leichter unrecht geschehen; ein Satz, den alle Pädagogen täglich und stündlich beherzigen sollten.
Oft konnte Anton stundenlag nachdenken und Gründe gegen Gründe auf das genaueste abwägen, ob eine Züchtigung von seinem Vater recht oder unrecht sei.
Jetzt genoß er in seinem elften Jahre zum ersten Male das unaussprechliche Vergnügen verbotner Lektüre.
Sein Vater war ein abgesagter Feind von allen Romanen und drohete ein solches Buch sogleich mit Feuer zu verbrennen, wenn er es in seinem Hause fände. Demohngeachtet bekam Anton durch seine Base die schöne Banise, die Tausend und eine Nacht und die Insel Felsenburg in die Hände, die er nun heimlich und verstohlen, obgleich mit Bewußtsein seiner Mutter, in der Kammer las und gleichsam mit unersättlicher Begierde verschlang.
Dies waren einige der süßesten Stunden in seinem Leben. Sooft seine Mutter hereintrat, drohete sie ihm bloß mit der Ankunft seines Vaters, ohne ihm selber das Lesen in diesen Büchern zu verbieten, worin sie ehemals ein ebenso entzückendes Vergnügen gefunden hatte.
Die Erzählung von der Insel Felsenburg tat auf Anton eine sehr starke Wirkung; denn nun gingen eine Zeitlang seine Ideen auf nichts Geringers, als einmal eine große Rolle in der Welt zu spielen und erst einen kleinen, denn immer größern Zirkel von Menschen um sich her zu ziehen, von welchen er der Mittelpunkt wäre: dies erstreckte sich immer weiter, und seine ausschweifende Einbildungskraft ließ ihn endlich sogar Tiere, Pflanzen und leblose Kreaturen, kurz alles, was ihn umgab, mit in die Sphäre seines Daseins hineinziehen, und alles mußte sich um ihn, als den einzigen Mittelpunkt, umher bewegen, bis ihm schwindelte.
Dieses Spiel seiner Einbildungskraft machte ihm damals oft wonnevollre Stunden, als er je nachher wieder genossen hat.
So machte seine Einbildungskraft die meisten Leiden und Freuden seiner Kindheit. Wie oft, wenn er an einem trüben Tage bis zum Überdruß und Ekel in der Stube eingesperrt war und etwa ein Sonnenstrahl durch eine Fensterscheibe fiel, erwachten auf einmal in ihm Vorstellungen vom Paradiese, vom Elysium oder von der Insel der Kalypso, die ihn ganze Stunden lang entzückten.
Aber von seinem zweiten und dritten Jahre an erinnert er sich auch der höllischen Qualen, die ihm die Märchen seiner Mutter und seiner Base im Wachen und im Schlafe machten: wenn er bald im Traume lauter Bekannte um sich her sahe, die ihn plötzlich mit scheußlich verwandelten Gesichtern anbleckten, bald eine hohe düstre Stiege hinaufstieg und eine grauenvolle Gestalt ihm die Rückkehr verwehrte, oder gar der Teufel bald wie ein fleckigtes Huhn, bald wie ein schwarzes Tuch an der Wand ihm erschien.
Als seine Mutter noch mit ihm auf dem Dorfe wohnte, jagte ihm jede alte Frau Furcht und Entsetzen ein, so viel hörte er beständig von Hexen und Zaubereien; und wenn der Wind oft mit sonderbarem Getön durch die Hütte pfiff, so nannte seine Mutter dies im allegorischen Sinn den handlosen Mann, ohne weiter etwas dabei zu denken.
Allein sie würde es nicht getan haben, hätte sie gewußt, wie manche grauenvolle Stunde und wie manche schlaflose Nacht dieser handlose Mann ihrem Sohne noch lange nachher gemacht hat.
Insbesondre waren immer die letzten vier Wochen vor Weihnachten für Anton ein Fegefeuer, wogegen er gerne den mit Wachslichtern besteckten und mit übersilberten Äpfeln und Nüssen behängten Tannenbaum entbehrt hätte.
Da ging kein Tag hin, wo sich nicht ein sonderbares Getöse wie von Glocken oder ein Scharren vor der Türe oder eine dumpfe Stimme hätte hören lassen, die den sogenannten Ruprecht oder Vorgänger des heiligen Christs anzeigte, den Anton denn im ganzen Ernst für einen Geist oder ein übermenschliches Wesen hielt, und so ging auch diese ganze Zeit über keine Nacht hin, wo er nicht mit Schrecken und Angstschweiß vor der Stirne aus dem Schlaf erwachte.
Dies währte bis in sein achtes Jahr, wo erst sein Glaube an die Wirklichkeit des Ruprechts sowohl als des heiligen Christs an zu wanken fing.
So teilte ihm seine Mutter auch eine kindische Furcht vor dem Gewitter mit. Seine einzige Zuflucht war alsdann, daß er, so fest er konnte, die Hände zusammenfaltete und sie nicht wieder auseinanderließ, bis das Gewitter vorüber war; dies, nebst dem über sich geschlagenen Kreuze, war auch seine Zuflucht und gleichsam eine feste Stütze, sooft er alleine schlief, weil er dann glaubte, es könne ihm weder Teufel noch Gespenster etwas anhaben.
Seine Mutter hatte einen sonderbaren Ausdruck, daß einem, der vor einem Gespenste fliehen will, die Fersen lang werden; dies fühlte er im eigentlichen Verstande, sooft er im Dunkeln etwas Gespensterähnliches zu sehen glaubte. Auch pflegte sie von einem Sterbenden zu sagen, daß ihm der Tod schon auf der Zunge sitze; dies nahm Anton ebenfalls im eigentlichen Verstande, und als der Mann seiner Base starb, stand er neben dem Bette und sahe ihm sehr scharf in den Mund, um den Tod auf der Zunge desselben, etwa wie eine kleine schwarze Gestalt, zu entdecken.
Die erste Vorstellung über seinen kindischen Gesichtskreis hinaus bekam er ohngefähr im fünften Jahre, als seine Mutter noch mit ihm in dem Dorfe wohnte und eines Abends mit einer alten Nachbarin, ihm und seinen Stiefbrüdern allein in der Stube saß.
Das Gespräch fiel auf Antons kleine Schwester, die vor kurzem in ihrem zweiten Jahre gestorben war, und worüber seine Mutter beinahe ein Jahr lang untröstlich blieb.
Wo wohl jetzt Julchen sein mag? sagte sie nach einer langen Pause und schwieg wieder. Anton blickte nach dem Fenster hin, wo durch die düstre Nacht kein Lichtstrahl schimmerte, und fühlte zum ersten Male die wunderbare Einschränkung, die seine damalige Existenz von der gegenwärtigen beinahe so verschieden machte wie das Dasein vom Nichtsein.
Wo mag jetzt wohl Julchen sein? dachte er seiner Mutter nach, und Nähe und Ferne, Enge und Weite, Gegenwart und Zukunft blitzte durch seine Seele. Seine Empfindung dabei malt kein Federzug; tausendmal ist sie wieder in seiner Seele, aber nie mit der ersten Stärke, erwacht.
Wie groß ist die Seligkeit der Einschränkung, die wir doch aus allen Kräften zu fliehen suchen! Sie ist wie ein kleines glückliches Eiland in einem stürmischen Meere; wohl dem, der in ihrem Schoße sicher schlummern kann, ihn weckt keine Gefahr, ihm drohen keine Stürme. Aber wehe dem, der von unglücklicher Neugier getrieben, sich über dies dämmernde Gebirge hinauswagt, das wohltätig seinen Horizont umschränkt.
Er wird auf einer wilden stürmischen See von Unruh und Zweifel hin und her getrieben, sucht unbekannte Gegenden in grauer Ferne, und sein kleines Eiland, auf dem er so sicher wohnte, hat alle seine Reize für ihn verloren.
Eine von Antons seligsten Erinnerungen aus den frühesten Jahren seiner Kindheit ist, als seine Mutter ihn in ihren Mantel eingehüllt durch Sturm und Regen trug. Auf dem kleinen Dorfe war die Welt ihm schön, aber hinter dem blauen Berge, nach welchem er immer sehnsuchtsvoll blickte, warteten schon die Leiden auf ihn, die die Jahre seiner Kindheit vergällen sollten.
Da ich einmal in meiner Geschichte zurückgegangen bin, um Antons erste Empfindungen und Vorstellungen von der Welt nachzuholen, so muß ich hier noch zwei seiner frühesten Erinnerungen anführen, die seine Empfindung des Unrechts betreffen.
Er ist sich deutlich bewußt, wie er im zweiten Jahre, da seine Mutter noch nicht mit ihm auf dem Dorfe wohnte, von seinem Hause nach dem gegenüberstehenden über die Straße hin und wieder lief und einem wohlgekleideten Manne in den Weg rannte, gegen den er heftig mit den Händen ausschlug, weil er sich selbst und andre zu überreden suchte, daß ihm Unrecht geschehen sei, ob er gleich innerlich fühlte, daß er der beleidigende Teil war.
Diese Erinnerung ist wegen ihrer Seltenheit und Deutlichkeit merkwürdig; auch ist sie echt, weil der Umstand an sich zu geringfügig war, als daß ihm nachher jemand davon hätte erzählen sollen.
Die zweite Erinnerung ist aus dem vierten Jahre, wo seine Mutter ihn wegen einer wirklichen Unart schalt; indem er sich nun gerade auszog, fügte es sich, daß eines seiner Kleidungsstücke mit einigem Geräusch auf den Stuhl fiel: seine Mutter glaubte, er habe es aus Trotz hingeworfen, und züchtigte ihn hart.
Dies war das erste wirkliche Unrecht, was er tief empfand und was ihm nie aus dem Sinne gekommen ist; seit der Zeit hielt er auch seine Mutter für ungerecht, und bei jeder neuen Züchtigung fiel ihm dieser Umstand ein.
Ich habe schon erwähnt, wie ihm der Tod in seiner Kindheit vorgekommen sei. Dies dauerte bis in sein zehntes Jahr, als einmal eine Nachbarin seine Eltern besuchte und erzählte, wie ihr Vetter, der ein Bergmann war, von der Leiter hinunter in die Grube gefallen sei und sich den Kopf zerschmettert habe.
Anton hörte aufmerksam zu, und bei dieser Kopfzerschmetterung dachte er sich auf einmal ein gänzliches Aufhören von Denken und Empfinden und eine Art von Vernichtung und Ermangelung seiner selbst, die ihn mit Grauen und Entsetzen erfüllte, sooft er wieder lebhaft daran dachte. Seit der Zeit hatte er auch eine starke Furcht vor dem Tode, die ihm manche traurige Stunde machte.
Noch muß ich etwas von seinen ersten Vorstellungen, die er sich ebenfalls ohngefähr im zehnten Jahre von Gott und der Welt machte, sagen.
Wenn oft der Himmel umwölkt und der Horizont kleiner war, fühlte er eine Art von Bangigkeit, daß die ganze Welt wiederum mit ebenso einer Decke umschlossen sei wie die Stube, worin er wohnte, und wenn er dann mit seinen Gedanken über diese gewölbte Decke hinausging, so kam ihm diese Welt an sich viel zu klein vor, und es deuchte ihm, als müsse sie wiederum in einer andern eingeschlossen sein, und das immer so fort.
Ebenso ging es ihm mit seiner Vorstellung von Gott, wenn er sich denselben als das höchste Wesen denken wollte.
Er saß einmal in der Dämmerung an einem trüben Abend allein vor seiner Haustüre und dachte hierüber nach, indem er oft gen Himmel blickte und dann wieder die Erde ansahe und bemerkte, wie sie selbst gegen den trüben Himmel so schwarz und dunkel war.
Über den Himmel dachte er sich Gott; aber jeder, auch der höchste Gott, den sich seine Gedanken schufen, war ihm zu klein und mußte immer wieder noch einen höhern über sich haben, gegen den er ganz verschwand, und das so ins Unendliche fort.
Doch hatte er hierüber nie etwas gelesen noch gehört. Was am sonderbarsten war, so geriet er durch sein beständiges Nachdenken und Insichgekehrtsein sogar auf den Egoismus, der ihn beinahe hätte verrückt machen können.
Weil nämlich seine Träume größtenteils sehr lebhaft waren und beinahe an die Wirklichkeit zu grenzen schienen, so fiel es ihm ein, daß er auch wohl am hellen Tage träume und die Leute um ihn her, nebst allem, was er sahe, Geschöpfe seiner Einbildungskraft sein könnten.
Dies war ihm ein erschrecklicher Gedanke, und er fürchtete sich vor sich selber, sooft er ihm einfiel, auch suchte er sich dann wirklich durch Zerstreuung von diesen Gedanken loszumachen.
Nach dieser Ausschweifung wollen wir der Zeitfolge gemäß in Antons Geschichte wieder fortfahren, den wir eilf Jahre alt bei der Lektüre der schönen Banise und der Insel Felsenburg verlassen haben. Er bekam nun auch Fénelons Totengespräche nebst dessen Erzählungen zu lesen, und sein Schreibmeister fing an, ihn eigne Briefe und Ausarbeitungen machen zu lassen.
Dies war für Anton eine noch nie empfundene Freude. Er fing nun an, seine Lektüre zu nutzen und hie und da Nachahmungen von dem Gelesenen anzubringen, wodurch er sich den Beifall und die Achtung seines Lehrers erwarb.
Sein Vater musizierte mit in einem Konzert, wo Ramlers Tod Jesu aufgeführt wurde, und brachte einen gedruckten Text davon mit zu Hause. Dieser hatte für Anton so viel Anziehendes und übertraf alles Poetische, was er bisher gelesen hatte, so weit, daß er ihn so oft und mit solchem Entzücken las, bis er ihn beinahe auswendig wußte.
Durch diese einzige so oft wiederholte zufällige Lektüre bekam sein Geschmack in der Poesie eine gewisse Bildung und Festigkeit, die er seit der Zeit nicht wieder verloren hat; so wie in der Prose durch den Telemach; denn er fühlte bei der schönen Banise und Insel Felsenburg, ohngeachtet des Vergnügens, das er darin fand, doch sehr lebhaft das Abstechende und Unedlere in der Schreibart.
Von poetischer Prose fiel ihm Carl von Mosers Daniel in der Löwengrube in die Hände, den er verschiedne Male durchlas, und woraus auch sein Vater zuweilen vorzulesen pflegte.
Die Brunnenzeit kam wieder heran, und Antons Vater beschloß, ihn wieder mit nach Pyrmont zu nehmen; allein diesmal sollte Anton nicht so viel Freude als im vorigen Jahre dort genießen, denn seine Mutter reiste mit.
Ihr unaufhörliches Verbieten von Kleinigkeiten und beständiges Schelten und Strafen zu unrechter Zeit verleidete ihm alle edlern Empfindungen, die er hier vor einem Jahr gehabt hatte; sein Gefühl für Lob und Beifall ward dadurch so sehr unterdrückt, daß er zuletzt beinahe seiner Natur zuwider eine Art von Vergnügen darin fand, sich mit den schmutzigsten Gassenbuben abzugeben und mit ihnen gemeine Sache zu machen, bloß weil er verzweifelte, sich je die Liebe und Achtung in Pyrmont wieder zu erwerben, die er durch seine Mutter einmal verloren hatte, welche nicht nur gegen seinen Vater, sooft er zu Hause kam, sondern auch gegen ganz fremde Leute beständig von nichts als von seiner schlechten Aufführung sprach, wodurch dieselbe denn wirklich anfing, schlecht zu werden und sein Herz sich zu verschlimmern schien. Er kam auch nun seltner in das von Fleischbeinsche Haus, und die Zeit seines diesmaligen Aufenthalts in Pyrmont strich für ihn höchst unangenehm und traurig vorüber, so daß er sich oft noch mit Wehmut an die Freuden des vorigen Jahres zurückerinnerte, ob er gleich diesmal nicht so viel Schmerzen an seinem Fuß auszustehn hatte, der nun, nachdem der schadhafte Knochen herausgenommen war, wieder an zu heilen fing.
Bald nach der Zurückkunft seiner Eltern in Hannover trat Anton in sein zwölftes Jahr, worin ihm wiederum sehr viele Veränderungen bevorstanden: denn noch in diesem Jahre sollte er von seinen Eltern getrennt werden. Fürs erste stand ihm eine große Freude bevor.
Antons Vater ließ ihn auf Zureden einiger Bekannten in der öffentlichen Stadtschule eine lateinische Privatstunde besuchen, damit er wenigstens auf alle Fälle, wie es hieß, einen Kasum solle setzen lernen. In die übrigen Stunden der öffentlichen Schule aber, worin Religionsunterricht die Hauptsache war, wollte ihn sein Vater, zum größten Leidwesen seiner Mutter und Anverwandten, schlechterdings nicht schicken.
Nun war doch einer von Antons eifrigsten Wünschen, einmal in eine öffentliche Stadtschule gehen zu dürfen, zum Teil erfüllt.
Beim ersten Eintritt waren ihm schon die dicken Mauern, dunklen gewölbten Gemächer, hundertjährigen Bänke und vom Wurm durchlöcherten Katheder nichts wie Heiligtümer, die seine Seele mit Ehrfurcht erfüllten.
Der Konrektor, ein kleines muntres Männchen, flößte ihm, ohngeachtet seiner nicht sehr gravitätischen Miene, dennoch durch seinen schwarzen Rock und Stutzperücke einen tiefen Respekt ein.
Dieser Mann ging auch auf einen ziemlich freundschaftlichen Fuß mit seinen Schülern um: gewöhnlich nannte er zwar einen jeden Ihr, aber die vier öbersten, welche er auch im Scherz Veteraner hieß, wurden vorzugsweise Er genannt.
Ob er dabei gleich sehr strenge war, hat doch Anton niemals einen Vorwurf noch weniger einen Schlag von ihm bekommen: er glaubte daher auch in der Schule immer mehr Gerechtigkeit als bei seinen Eltern zu finden.
Er mußte nun anfangen, den Donat auswendig zu lernen; allein freilich hatte er einen wunderbaren Akzent, der sich bald zeigte, da er gleich in der zweiten Stunde sein Mensa auswendig hersagen mußte, und indem er Singulariter und Pluraliter sagte, immer den Ton auf die vorletzte Silbe legte, weil er sich beim Auswendiglernen dieses Pensums wegen der Ähnlichkeit dieser Wörter mit Amoriter, Jebusiter usw. fest einbildete, die Singulariter wären ein besonderes Volk, das Mensa, und die Pluraliter ein andres Volk, das Mensä gesagt hätte.
Wie oft mögen ähnliche Mißverständnisse veranlaßt werden, wenn der Lehrer sich mit den ersten Worten des Lehrlings begnügen läßt, ohne in den Begriff desselben einzudringen!
Nun ging es an das Auswendiglernen. Das amo, amem, amas, ames ward bald nach dem Takte hergebetet, und in den ersten sechs Wochen wußte er schon sein oportet auf den Fingern herzusagen; dabei wurden täglich Vokabeln auswendig gelernt, und weil ihm niemals eine fehlte, so schwang er sich in kurzer Zeit von einer Stufe zur andern empor und rückte immer näher an die Veteraner heran.
Welch eine glückliche Lage, welch eine herrliche Laufbahn für Anton, der nun zum ersten Male in seinem Leben einen Pfad des Ruhms vor sich eröffnet sahe, was er so lange vergeblich gewünscht hatte.
Auch zu Hause brachte er diese kurze Zeit ziemlich vergnügt zu, indem er alle Morgen, während daß seine Eltern Kaffee tranken, ihnen aus dem Thomas von Kempis von der Nachfolge Christi vorlesen mußte, welches er sehr gern tat.
Es ward alsdann darüber gesprochen, und er durfte auch zuweilen sein Wort dazugeben. Übrigens genoß er das Glück, nicht viel zu Hause zu sein, weil er noch die Stunden seines alten Schreibmeisters zu gleicher Zeit besuchte, den er, ohngeachtet mancher Kopfstöße, die er von ihm bekommen hatte, so aufrichtig liebte, daß er alles für ihn aufgeopfert hätte.
Denn dieser Mann unterhielt sich mit ihm und seinen Mitschülern oft in freundschaftlichen und nützlichen Gesprächen, und weil er sonst von Natur ein ziemlich harter Mann zu sein schien, so hatte seine Freundlichkeit und Güte desto mehr Rührendes, das ihm die Herzen gewann.
So war nun Anton einmal auf einige Wochen in einer doppelten Lage glücklich: aber wie bald wurde diese Glückseligkeit zerstört! Damit er sich seines Glücks nicht überheben sollte, waren ihm fürs erste schon starke Demütigungen zubereitet.
Zweiter Teil (1786)
Vorrede
Um fernern schiefen Urteilen, wie schon einige über dies Buch gefällt sind, vorzubeugen, sehe ich mich genötigt, zu erklären, daß dasjenige, was ich aus Ursachen, die ich für leicht zu erraten hielt, einen psychologischen Roman genannt habe, im eigentlichsten Verstande Biographie und zwar eine so wahre und getreue Darstellung eines Menschenlebens bis auf seine kleinste Nüancen ist, als es vielleicht nur irgendeine geben kann. -
Wem nun an einer solchen getreuen Darstellung etwas gelegen ist, der wird sich an das anfänglich Unbedeutende und unwichtig Scheinende nicht stoßen, sondern in Erwägung ziehen, daß dies künstlich verflochtne Gewebe eines Menschenlebens aus einer unendlichen Menge von Kleinigkeiten besteht, die alle in dieser Verflechtung äußerst wichtig werden, so unbedeutend sie an sich scheinen. -
Wer auf sein vergangnes Leben aufmerksam wird, der glaubt zuerst oft nichts als Zwecklosigkeit, abgerißne Fäden, Verwirrung, Nacht und Dunkelheit zu sehen; je mehr sich aber sein Blick darauf heftet, desto mehr verschwindet die Dunkelheit, die Zwecklosigkeit verliert sich allmählich, die abgerißnen Fäden knüpfen sich wieder an, das Untereinandergeworfene und Verwirrte ordnet sich – und das Mißtönende löset sich unvermerkt in Harmonie und Wohlklang auf. -
Ich habe nämlich schon der Deklamationsübungen erwähnt, welche in Sekunda von dem Konrektor veranstaltet wurden. Dies hatte für ihn und Iffland einen so außerordentlichen Reiz, daß alles andre sich dagegen verdunkelte und Reiser nichts mehr wünschte, als Gelegenheit zu haben, mit mehreren seiner Mitschüler einmal eine Komödie aufzuführen, um sich im Deklamieren hören zu lassen – dies hatte einen so unendlichen Reiz für ihn, daß er eine Zeitlang Tag und Nacht mit diesem Gedanken umging und selber den Entwurf zu einer Komödie machte, wo zwei Freunde voneinander getrennt werden sollten und darüber untröstlich waren usw. – Auch fand er in Leydings Handbibliothek, die ihm jemand geliehen hatte, ein rührendes Drama in Versen: ‘Der Einsiedler’, welches er gern mit Iffland aufführen wollte. Er wünschte sich denn eine recht affektvolle Rolle, wo er mit dem größten Pathos reden und sich in eine Reihe von Empfindungen versetzen könnte, die er so gern hatte und sie doch in seiner wirklichen Welt, wo alles so kahl, so armselig zuging, nicht haben konnte. – Dieser Wunsch war bei Reisern sehr natürlich; er hatte Gefühle für Freundschaft, für Dankbarkeit, für Großmut und edle Entschlossenheit, welche alle ungenutzt in ihm schlummerten; denn durch seine äußere Lage schrumpfte sein Herz zusammen. – Was Wunder, daß es sich in einer idealischen Welt wieder zu erweitern und seinen natürlichen Empfindungen nachzuhängen suchte!
In dem Schauspiel schien er sich gleichsam wiederzufinden, nachdem er sich in seiner wirklichen Welt beinahe verloren hatte. – Darum wurde auch in der Folge seine Freundschaft mit Philipp Reisern beinahe eine theatralische Freundschaft, die oft so weit ging, daß einer für den andern zu sterben entschlossen war. – Nun wurde ihm die Theatergrille so wert, daß die Sucht zu predigen beinahe ganz dadurch aus seiner Seele verdrängt wurde – denn hier fand seine Phantasie einen weit größern Spielraum, weit mehr wirkliches Leben und Interesse als in dem ewigen Monolog des Predigers. – Wenn er die Szenen eines Dramas, das er entweder gelesen oder sich selbst in Gedanken entworfen hatte, durchging, so war er das alles nacheinander wirklich, was er vorstellte, er war bald großmütig, bald dankbar, bald gekränkt und duldend, bald heftig und jedem Angriff mutig entgegenkämpfend.
Dabei war ihm nun die Aussicht auf Prima äußerst glänzend – denn die Primaner des Lyzeums in Hannover hatten wirklich so viele äußere in die Augen fallende Vorzüge, wie in wenigen Schulen stattfinden mögen. – Sie hielten alle Neujahr bei einer großen Menge Zuschauer einen öffentlichen Aufzug mit Musik und Fackeln, indem sie dem Direktor und dem Rektor ein Vivat brachten. – Am Abend darauf überreichten sie das eine Jahr dem Direktor und das andere dem Rektor ein freiwillig zusammengebrachtes Geschenk, das gemeiniglich über hundert Taler betrug, und wobei derjenige, der es überreichte, eine kurze lateinische Rede hielt – alsdann wurden sie mit Wein und Kuchen bewirtet und durften sich die Freiheit herausnehmen, ihrem Lehrer in seiner Behausung ein lauterschallendes Vivat zu rufen.
Fast ein Vierteljahr vorher wurde immer schon von der Anordnung dieses Zuges gesprochen.
Alle Sommer in den Hundstagen wurde von den Primanern öffentlich Komödie gespielt, wo ihnen die Wahl der Stücke und die Anordnung ebenfalls allein überlassen war. – Dies beschäftigte sie fast den ganzen Sommer über. – Dann fiel im Jenner das Geburtsfest der Königin und im Mai das Geburtsfest des Königs ein, wo allemal mit großer Feierlichkeit ein Redeaktus veranstaltet wurde, bei dem der Prinz, die Minister und fast alle Honoratioren der Stadt erschienen. Die Vorbereitung hiezu nahm nun jedesmal sehr viel Zeit weg. – Dazu kamen jährlich noch zwei öffentliche Prüfungen, die auch allemal mit Ferien begleitet waren. – Hiedurch ging freilich viel Zeit verloren. – Indes waren dies alles doch so viele glänzende Ziele für einen ehrgeizigen Jüngling, welche ihm den Reiz der Schuljahre immer wieder auffrischten, sobald er verlöschen wollte.
Etwa einmal einer der Anführer bei dem Zuge mit Fackeln zu sein oder die lateinische Rede bei Überreichung des Geschenks zu halten oder eine Hauptrolle in einem der aufgeführten Stücke zu bekommen oder gar eine Rede an des Königs oder der Königin Geburtstage zu halten, das waren die Wünsche und Aussichten eines Primaners des Lyzeums in Hannover. – Hiezu kam nun noch der elegante Hörsaal der ersten Klasse, mit dem zierlich gebauten doppelten Katheder von schöngebohnten Nußbaumholz und vor den Fenstern die grünen Vorhänge, welches alles sich vereinigte, um Reisers Phantasie aufs neue mit reizenden Bildern von seinem künftigen Zustande anzufüllen und seine Erwartung von dem, was nun mit ihm vorgehen würde, bis auf den höchsten Grad zu spannen. Sogleich nach seinem ersten Schuljahre ein Primaner zu werden, das war ein Glück, welches er sich kaum hätte träumen lassen.
Erfüllt von diesen Hoffnungen und Aussichten reiste er nun in der Ferienwoche vor Ostern mit Fuhrleuten, die denselben Weg nahmen, zu seinen Eltern, um ihnen sein Glück zu verkündigen. – Auf dieser Reise, da der Weg größtenteils durch Wald und Heide ging, nahm seine vorher erwärmte Phantasie einen außerordentlichen Schwung; er entwarf Heldengedichte, Trauerspiele, Romane und wer weiß was – zuweilen fiel ihm auch der Gedanke ein, sein Leben zu schreiben; der Anfang, den er sich dachte, lief aber immer auf den Schlag der Robinsons hinaus, die er gelesen hatte, daß er nämlich in dem und dem Jahre zu Hannover von armen, doch ehrlichen Eltern geboren sei, und so sollte es denn weiter fortgehen.
Sooft er nachher zu seinen Eltern reiste, es mochte nun zu Fuß oder zu Wagen sein, war unterwegens seine Einbildungskraft immer am geschäftigsten – ein ganzer Zeitraum seines verfloßnen Lebens stand vor ihm da, sobald er die vier Türme von Hannover aus dem Gesicht verlor – der Gesichtskreis seiner Seele erweiterte sich denn mit dem Gesichtskreis seiner Augen. – Er fühlte sich aus dem umschränkten Zirkel seines Daseins in die große weite Welt versetzt, wo alle wunderbaren Ereignisse, die er je in Romanen gelesen hatte, möglich waren – daß etwa von jenem Hügel plötzlich sein Vater oder seine Mutter wie aus der Ferne ihm entgegenkommen und wie er denn freudig auf sie zueilen würde – er glaubte schon den Ton der Stimme seiner Eltern zu hören – und da er nun das erstemal diese Reise tat, so empfand er wirklich das reinste Vergnügen der sehnlichen Erwartung, bei seinen Eltern zu sein: denn was hatte er ihnen nicht für große Dinge zu erzählen!
Dritter Teil (1786)
Mit dem Schluß dieses Teils heben sich Anton Reisers Wanderungen und mit ihnen der eigentliche Roman seines Lebens an. Das in diesem Teil Enthaltne ist eine getreue Darstellung der Szenen seiner Jünglingsjahre, welche andern, denen diese unschätzbare Zeit noch nicht entschlüpft ist, vielleicht zur Lehre und Warnung dienen kann. Vielleicht enthält auch diese Darstellung manche nicht ganz unnütze Winke für Lehrer und Erzieher, woher sie Veranlassung nehmen könnten, in der Behandlung mancher ihrer Zöglinge behutsamer und in ihrem Urteil über dieselben gerechter und billiger zu sein!
Und nun hatte er sich doch im Ausdruck seiner Gedanken auf verschiedene Art versucht; er fing an zu hoffen, daß ihm vielleicht einmal ein Werk des Geistes gelingen würde, wodurch er sich den Weg in jenen glänzenden Zirkel bahnte und sich das Recht erwürbe, mit Wesen umzugehen, die er bis jetzt noch so weit über sich erhaben glaubte. – Daher schrieb sich vorzüglich mit die Schriftstellersucht, welche schon damals anfing, ihn Tag und Nacht zu quälen. –
Ruhm und Beifall sich zu erwerben, das war von jeher sein höchster Wunsch gewesen; – aber der Beifall mußte ihm damals nicht zu weit liegen – er wollte ihn gleichsam aus der ersten Hand haben und wollte gern, wie es der natürliche Hang zur Trägheit mit sich bringt, ernten ohne zu säen. – Und so griff nun freilich das Theater am stärksten in seinen Wunsch ein. – Nirgends war jener Beifall aus der ersten Hand so wie hier zu erwarten. – Er betrachtete einen Brockmann, einen Reineck immer mit einer Art von Ehrfurcht, wenn er sie auf der Straße gehen sahe, und und was konnte er mehr wünschen, als in den Köpfen anderer Menschen einst ebenso zu existieren, wie diese in seinem Kopfe existierten. – So wie jene Leute vor einer so großen Anzahl von Menschen, als sonst nur selten oder nie versammlet sind, alle die erschütternden Empfindungen der Wut, der Rache, der Großmut nacheinander durchzugehen und sich gleichsam jeder Nerve des Zuschauers mitzuteilen, – das deuchte ihm ein Wirkungskreis, der in Ansehung der Lebhaftigkeit in der Welt nicht seinesgleichen hat. –
Allein er war nun freilich zu spät zu der theatralischen Gesellschaft getreten, um eine Rolle, wie er sie sich wünschte, zu erhalten, welches ihn außerordentlich kränkte. – Indes freute es ihn doch wieder, daß er nur noch eine Rolle bekam, da er den Ersatz erhielt, daß ihm die Verfertigung eines Prologs zu dem Deserteur aus Kindesliebe aufgetragen wurde, welcher nebst dem Personenverzeichnis gedruckt werden sollte. –
Nun wartete man nur darauf, bis die ordentlichen Schauspieler wieder wegreisen würden, um alsdann ebenfalls auf dem großen Königlichen Operntheater zu spielen, wozu sich die Primaner selbst die Erlaubnis erbeten hatten – so daß diesmal diese dramatischen Übungen so glänzend wurden, wie sie noch niemals gewesen waren. – Die ganze Einrichtung war dabei den jungen Leuten selbst überlassen – und da nun Reiser mit von der Gesellschaft war, so nahm er doch auch an allen öffentlichen Beratschlagungen und Debatten teil – eine Sache, die er von altersher nie gewohnt gewesen war, und die ihm daher fremd vorkam – es war ihm ordentlich, als käme es ihm nicht recht zu, wenn man ihn auch mit in Betrachtung zog. –
Ob er nun gleich eben keine äußere Veranlassung dazu hatte, so war ihm doch die Einsamkeit noch immer lieb – und seine vergnügtesten Stunden waren, wenn er etwa eine Strecke vor das Tor hinaus nach einer Windmühle ging, wo ringsumher in einem kleinen Bezirk eine romantische Abwechselung von Hügeln und Tälern war, und wo er sich im Garten in einer Laube eine Schale Milch geben ließ und dabei las – oder in seine Schreibtafel schrieb. – Dies war schon vor mehrern Jahren einer seiner liebsten Spaziergänge, und er war auch oft mit Philipp Reisern da gewesen. –
Als Werthers Leiden erschienen, fiel ihm bei den reizenden Beschreibungen von Wahlheim sogleich diese Windmühle ein und die manchen süßen Stunden, welche er einsam da genossen hatte.
Dann war vor dem neuen Tore ein künstlich angelegtes, ganz kleines Wäldchen, worin so viele Krümmungen und sich durchschlängelnde Pfade angebracht waren, daß man das Wäldchen wenigstens für sechsmal so groß hielt, als es war, wenn man darin herumirrte – man hatte ringsumher die Aussicht auf eine grüne Wiese, wo in der Ferne hinter den einzelnen hohen Bäumen, unter denen Reiser so gern zu wandern pflegte, und hinter dem kleinen Gebüsch, wo er sich so oft gelagert hatte, der Fluß hervorschimmerte, mit dessen Ufern er ebenfalls, durch seine öftern Spaziergänge an demselben, unter so manchen verschiednen Situationen seines Lebens vertraut geworden war. – Oft wenn er am Ende dieses Wäldchens auf einer Bank saß und in die weite Gegend hinausschaute, stiegen alle die vergangnen Szenen seines Lebens, der Kummer und Sorgen, die er dort an so manchem schwülen Sommertage mit sich herumgetragen hatte, wieder vor ihm auf, und das Andenken daran versetzte ihn in eine stille Wehmut, der er mit Vergnügen nachhing. – Er konnte auch in der Ferne die Brücke sehn, die über den Bach ging, an dem er so manche Stunde gesessen und so manches gelesen und gedichtet hatte. – Weil nun das Wäldchen so nahe vor der Stadt war, so pflegte er oft des Abends im Mondschein hinauszugehn und auch wohl mitunter ein wenig zu ‘siegwartisieren’, ohne doch den Siegwart gelesen zu haben, der erst ein Jahr nachher erschien. –
Hier hatte er in dem vorigen Jahre, da er neunzehn Jahr alt war, an einem rauhen Septemberabend seinen Geburtstag gefeiert – und sich selber die heiligsten Gelübde getan, sein künftiges Leben besser als das vergangne zu nutzen. –
Auf diesen einsamen Spaziergängen verfertigte er denn auch seinen Prolog, der sich wie seine Rede mit ‘welch ein’ anfing; denn in das sanft klingende ‘welch ein’ hatte er sich ordentlich verliebt, es schien gleich eine solche Fülle von Ideen zu fassen und alles Folgende hineinzufügen – er konnte sich keinen vollklingendern Anfang denken und hub daher denn auch seinen Prolog an:
   Welch eine Göttin geußt Entzücken
   Ins Herz des Fühlenden?
   Läßt mitleidsvoll vor seinen Blicken
   Oft Szenen sanfter Freud’ entstehn,
   Und bildet ihre Haine schön
   Sanfttraurender Melancholie?
   Sie ists, des Himmels Phantasie –
   Oft wandelt sie auf Blumenwegen
   Mit ihm ins stille Tal hinab,
   Zeigt ihm die Unschuld da in Hütten
   Und Freuden, welche Gott ihr gab, usw.
Dieser Prolog wurde nun nebst dem Personenverzeichnis wie ein kleines Buch gedruckt, und auf dem Titel stand: ‘verfaßt von Reiser, gesprochen von Iffland’. – Reiser sah sich also aufs neue gedruckt, und was noch mehr war, so erhielt er von seinen Mitschülern den Auftrag, den Prinzen selbst zu der Komödie einzuladen, welches er denn mit dem Degen an der Seite und in seinem Galakleide, worin er die Rede gehalten hatte, tat. –
Die Noblesse und Honoratioren der Stadt wurden nun auch von den jungen Leuten selbst eingeladen, und Reiser erhielt hier wiederum Gelegenheit so wie damals, da er die Rede gehalten hatte, einen Teil der großen Welt in der Nähe zu sehen, den er vorher nur noch aus einer großen Entfernung angestaunt hatte – er sahe, daß die Minister, Grafen und Edelleute, mit denen er nun Gesicht gegen Gesicht sprach, nicht so erstaunlich von ihm verschiedene Wesen waren, sondern daß sie in ihren Äußerungen ebenso wie die gemeinsten Leute manchmal etwas Sonderbares und Komisches hatten, wodurch der Nimbus um sie verschwand, sobald man sie nur reden hörte und sich in der Nähe mit ihnen unterhielt. – So glänzend nun Reisers Zustand schien, wenn er so über die Straße paradierte und in den ersten Häusern seine Cour machte, so war dieser Zustand doch im eigentlichen Verstande ein glänzendes Elend zu nennen – denn durch das schlechte Verhältnis seiner Ausgaben gegen seine Einkünfte wurden seine Umstände immer mißlicher, seine Lage immer ängstlicher. – Überdem drückte ihn das Einförmige seiner Lage, und daß er noch keine Aussicht vor sich sahe, die Universität mit Anstand zu beziehen – auch war ihm nun jener Beifall aus der ersten Hand, den ein Schauspieler einernten kann, so wichtig und so lieb geworden, daß sein Hang immer mehr nach dem Theater als nach der Universität war. –
Es war wirklich damals gerade die glänzendste Schauspielerepoche in Deutschland, und es war kein Wunder, daß die Idee, sich in eine so glänzende Laufbahn, wie die theatralische war, zu begeben, in den Köpfen mehrerer jungen Leute Funken schlug und ihre Phantasie erhitzte – das war denn damals auch der Fall bei der dramatischen Gesellschaft in Hannover – sie hatte gerade die vortrefflichsten Muster, einen Brockmann, Reineck, Schröder zu einem Zweck der Kunst vereinigt, täglich Lorbeern einernten sehen, und es war wirklich kein unrühmlicher Gedanke, solchen Mustern nachzueifern. –
Und um nun diesen Endzweck zu erreichen, brauchte man nicht erst drei Jahre auf der Universität studiert zu haben. – Dann kam bei Reisern die unwiderstehliche Begierde zum Reisen hinzu, welche sich seit der abenteuerlichen Wallfahrt nach Bremen seiner bemächtigt hatte – und der Gedanke, sich aus allen seinen bisherigen Verhältnissen, wo selbst das Beste ihm doch immer nur halb geglückt war, hinauszuversetzen und sein Glück in der weiten Welt zu suchen, fing allmählich an, bei ihm der herrschende zu werden – es war aber nur noch ein bloßes Spiel seiner Phantasie; er war noch nicht eigentlich entschlossen, die Sache selbst ins Werk zu richten. –
Während dieser Zeit besuchte ihn nun sein Vater in Hannover, den er jetzt zum ersten Male in seiner Stube, die mit sehr guten Möbeln versehen und schön austapeziert war, bewirten konnte. – Seinem Vater suchte er nun seine Lage von der angenehmsten und vorteilhaftesten Seite zu schildern und stellte ihm das Aufführen der Komödie als eine Sache vor, wodurch er nun sowohl wegen des gedruckten Prologs als auch, weil er den Prinz selbst dazu eingeladen hätte, wieder neue Aufmerksamkeit auf sich errege und sich ebenso wie durch die Rede an der Königin Geburtstage im auffallenden Lichte wieder zeigen könnte. –
Reisers Vater äußerte bei dieser Gelegenheit einen sehr wichtigen und wahren Gedanken, daß solche Vorfälle, wo einer sich öffentlich zu seinem Vorteil zu zeigen Gelegenheit hat, wie z.B. bei der Rede an der Königin Geburtstage, gleichsam wie ein Sieg zu betrachten wären, den man verfolgen müsse, weil dergleichen im Leben sich nur selten ereigne. –
Reiser begleitete seinen Vater bei dessen Rückreise eine Stunde vor das Tor hinaus, und da sie nun an eben den Fleck kamen, wo ihm derselbe einst seinen Fluch gegeben hatte, so standen sie zufälligerweise still – es fiel Reisern nachher erst ein, daß dies derselbe Fleck war – sie hatten sich bis dahin über die wichtigsten und erhabensten Gegenstände, worin die Mystik und die Metaphysik zusammentreffen, unterredet, und nun schloß Reisers Vater einen Bund mit seinem Sohne, daß sie von nun an gemeinschaftlich jenem großen Ziele der Vereinigung mit dem höchsten denkenden Wesen näher zu kommen streben wollten; worauf er ihm denn auf eben dem Fleck durch Auflegung der Hand seinen Segen erteilte, wo er ihm ehemals seinen Fluch gab. –
Reiser kehrte also nun in einer sehr guten Stimmung wieder zu Hause – und blieb darin, bis nun wieder eine neue Rollenbesetzung von den Stücken, die außer dem Deserteur aus Kindesliebe noch aufgeführt werden sollten, seine Phantasie erregte und seine durch vernünftiges Nachdenken eingewiegten romanhaften Ideen wieder erweckte. –
Die Stücke, die noch aufgeführt wurden, waren Clavigo, der Mann nach der Uhr und der Edelknabe. – Er hatte im Deserteur aus Kindesliebe mit einer unbedeutenden Nebenrolle vorlieb genommen und rechnete nun darauf, wenigstens die Rolle des Clavigo zu erhalten – so wie nun alle Wünsche seines Herzens sich auf das Theater hefteten, so waren sie insbesondre auf diese Rolle gleichsam gespannt – und man teilte sie nicht ihm, sondern einem andern zu, der sie offenbar schlechter spielte, wie Reiser sie gespielt haben würde. –
Reisers Kränkung hierüber war so groß, daß ihn dieser Vorfall in eine Art von wirklicher Melancholie stürzte. – Wem dies unwahrscheinlich oder unnatürlich vorkommt, der erwäge, daß sein ganzer Wunsch, den er schon jahrelang bei sich genährt hatte, jetzt gerade auf der Spitze der Erfüllung oder Nichterfüllung stand, öffentlich vor den versammleten Einwohnern seiner Vaterstadt seine Talente zu entwickeln und zeigen zu können, wie tief er empfand, was er sagte, und wie mächtig er wieder das durch Stimme und Ausdruck zu sagen imstande wäre, was er so tief empfand – solche erschütternde Empfindungen wieder bei Tausenden zu erregen, wie Reineck, der den Clavigo spielte, in ihm erregt hatte, das war für ihn ein so großer, stolzer und die Seele erhebender Gedanke, wie vielleicht nie für irgendeinen Sterblichen eine Rolle in einem Trauerspiel gewesen sein mag. – Hier wäre nun alles das weit über seine Erwartung erfüllt worden, was er sich schon vor mehr als fünf Jahren gewünscht hatte. – Denn das Auditorium war hier so glänzend und zahlreich, wie es vielleicht nie gewesen sein mochte. – Das Schauspielhaus, welches einige tausend Personen faßte, war so voll, daß niemand mehr Platz darin fand, und unter den Zuschauern befand sich der Prinz nebst dem ganzen Adel, die Geistlichkeit und die Gelehrten und Künstler der Stadt. – Vor einem solchen Auditorium und dazu in einer Stadt, die beinahe seine Vaterstadt war, worin er erzogen und so mancherlei widerwärtige Schicksale erlebt hatte, sich mit aller der Stärke der Empfindungen und des Ausdrucks, die er bis jetzt nur für sich allein hatte entwickeln können, öffentlich zu zeigen – konnte in seiner Lage wohl etwas Wünschenswerteres für ihn sein? –
Aber vom sterbenden Sokrates an schien der Genius der Schauspielkunst auf ihn zu zürnen.
Er suchte sich die Rolle des Clavigo zu erbitten und zu ertrotzen, aber beides half nichts; sein Nebenbuhler siegte. – Dies griff ihn auf seiner verwundbarsten Seite, auf dem zärtlichsten Fleck seines Lebens an – alles übrige wurde ihm nun dadurch verbittert. – Keiner unter allen, der ihm die Rolle des Clavigo abgetreten hätte, würde so viel darunter verloren haben als er, daß er sie nicht erhielt. – Da sein eigentlicher gegenwärtiger Lebensfleck ihm so verdunkelt war, so zog es sich auch wieder über sein ganzes übriges Leben wie ein Flor; alles hüllte sich ihm in melancholische Trauer – er suchte die Einsamkeit wieder, wo er nur konnte, und fing an, sich in seinem Äußern zu vernachlässigen. –
Philipp Reiser machte indes auf seiner Stube Klaviere und nahm an allen diesen Possen keinen Teil. – Anton Reiser war seit seiner Verbindung mit der dramatischen Gesellschaft selten zu ihm gekommen – jetzt, da es ihm so wenig nach Wunsch ging, besuchte er ihn wieder öfter, hing bei ihm seiner Schwermut nach, ohne ihm doch den eigentlichen Grund davon zu sagen – denn er wollte sich gegen sich selbst nicht einmal recht merken lassen, daß seine Schwermut bloß davon herrührte, weil er die Rolle des Clavigo nicht erhalten hatte, sondern er wollte sich lieber überreden, daß dieselbe eine Folge von seiner Betrachtung des menschlichen Lebens überhaupt sei. –
Indes wurde ihm von der Zeit an, daß er die Rolle des Clavigo nicht erhielt, sein Aufenthalt in Hannover lästig, er fing von der Zeit an, unstet und flüchtig zu werden. – Sein jahrelanger sehnlichster Wunsch mußte in Erfüllung gebracht werden, mochte es nun auch sein, wo es wollte – er mußte irgendwo alles das wirklich machen, was bis jetzt durch eine so lang anhaltende Komödienlektüre und seinen schon so lange fortdaurenden Hang zum Theater in seiner Phantasie reif geworden war. –
Als der Clavigo probiert wurde, hatte er sich in eine der Logen versteckt – und während daß Iffland als Beaumarchais auf dem Theater wütete, wütete Reiser, der in der Loge ausgestreckt am Boden lag, gegen sich selber, und seine Raserei ging so weit, daß er sich das Gesicht mit Glasscherben, die am Boden lagen, zerschnitt und sich die Haare raufte. – Denn die Erleuchtung, die Blicke unzähliger Zuschauer alle auf ihn allein hingeheftet und sich, vor allen diesen forschenden Blicken seine innersten Seelenkräfte äußernd, durch die Erschütterung seiner Nerven auf jede Nerve der Zuschauer wirkend – das alles wurde ihm in dem Augenblick gegenwärtig – und nun sollte er nichts wie unter der Menge verloren ein bloßer Zuschauer sein, wie er jetzt war, während daß ein Dummkopf, der den Clavigo spielte, alle die Aufmerksamkeit auf sich zog, die ihm, dem stärker Empfindenden, gebührt hätte. –
Nach alle den vorhergehenden Situationen, worin er sich seit Jahren befunden hatte, war ihm nun die Rolle des Clavigo gleichsam Zweck seines Lebens geworden, das durch tausend drückende Lagen einmal ganz unter die Herrschaft der Phantasie zurückgedrängt war, die nun über dasselbe ihre Rechte ausüben wollte. – –
Die Saite war bis zur höchsten Spannung hinaufgewunden, und nun sprang sie. –
Als diese schreckliche Probe vorbei war, so fand sich Reiser wieder ganz allein, ohne einen Freund, ohne einen, der sich seiner annahm. – Er wollte doch jemanden seinen Kummer klagen und ging zu Iffland, der sich von dem Augenblick fester wie jemals an ihn schloß: weil gerade dasselbe Bedürfnis bei ihm war, was Reisern zu ihm trieb. –
Ifflands Phantasie war ebenfalls bis auf den höchsten Grad gespannt, und sein Hang zum Theater überwiegend geworden, er bedurfte einen, dem er seine geheimsten Wünsche und seinen Kummer entdecken konnte. –
Nun hatten sein Vater und sein älterer Bruder nicht ohne Grund befürchtet, daß der Hang zum Theater durch den großen Beifall, den er sich durch sein Spiel erwarb, zu sehr genährt und am Ende überwiegend werden möchte, und ihm daher untersagt, an den dramatischen Übungen ferner teilzunehmen, wogegen er nun freilich alle möglichen Einwendungen machte und eben jetzt noch deswegen mit seinem Vater in Unterhandlung stand. – Er machte nun Reisern zum Vertrauten von seinem Vorsatz, sich ganz dem Theater zu widmen, so wie er ehmals mit ihm über seinen Entschluß, ein Dorfprediger zu werden, gesprochen hatte. –
Die Rolle, welche Iffland schon gespielt hatte, war der Deserteur im Deserteur aus Kindesliebe und der Jude im Diamant, der als Nachspiel zum Deserteur gegeben wurde. – Den Juden hatte er so meisterhaft gespielt, daß er nachher mit ebendieser Rolle unter Ekhofs Augen debütierte und seine theatralische Laufbahn eröffnete – so wie er sich nun durch den Juden im höchsten Komischen gezeigt hatte, so zeigte er sich durch den Beaumarchais im höchsten Tragischen, und sein Spiel war wirklich in dieser letztern Rolle so hinreißend, daß man Brockmann selbst zu hören und zu sehen glaubte; und das Vergnügen, sich in dieser Rolle öffentlich zu zeigen, sollte ihm nun verleidet werden. – Er nötigte Reisern, die Nacht bei ihm auf seiner Stube zu bleiben, wo sie sich denn in reizenden Träumen von der Glückseligkeit, die der Stand eines Schauspielers gewährte, verloren, bis sie beide darüber einschliefen. –
Jetzt waren sie beide fast unzertrennlich und Tag und Nacht beisammen. – Und einst, da sie an einem warmen aber trüben Morgen vors Tor hinausgingen, sagte Iffland, dies wäre gutes Wetter, davonzugehen – und das Wetter schien auch so reisemäßig, der Himmel so dicht auf der Erde liegend, die Gegenstände umher so dunkel, gleichsam als sollte die Aufmerksamkeit nur auf die Straße, die man wandern wollte, hingeheftet werden. – Die Idee wurde in beider Köpfen so rege, daß nicht viel fehlte, sie hätten sie gleich ins Werk gerichtet – indes wollte doch Iffland womöglich in Hannover noch seinen Beaumarchais spielen – sie kehrten also nach der Stadt wieder um – so sehr sich nun auch Iffland für Reisern mit bewarb, so war es doch unmöglich, daß dieser die Rolle des Clavigo erhalten konnte – statt dessen trat ihm endlich der, welcher den Clavigo spielte, den Fürsten im Edelknaben ab – und in dem Manne nach der Uhr erhielt Reiser die Rolle des Magister Blasius. –
Reiser war nun darüber melancholisch, daß er den Clavigo nicht spielen sollte, und Iffland, daß er überhaupt nicht mehr mit Komödie spielen sollte – beide aber suchten sich zu überreden, daß sie des Lebens um sein selbst willen überdrüssig wären, und luden sich einmal des Nachts zwei Pistolen, womit sie fast die ganze Nacht hindurch Kurzweil trieben, indem sie ‘sein oder nicht sein’ hertragierten. – Bei Reisern ging indes der Lebensüberdruß in der Tat so weit, daß er nicht aus der Stelle wich, wenn Iffland die geladene Pistole auf ihn hielt und den Finger anlegte, um sie abzudrücken, indes Reiser ebendasselbe wieder gegen ihn tat. –
Am andern Tage aber hatte er einen etwas ernsthaftern Auftritt mit Philipp Reisern, den er besuchte. – Er hatte die Nacht nicht geschlafen, eine dumme Trägheit blickte aus seinen hohlen Augen hervor, der Lebensüberdruß saß auf seiner Stirne, alle Spannkraft seiner Seele war dahin – er sagte zu Philipp Reisern guten Tag! – und dann stand er da wie ein Stock. –
Philipp Reiser, der ihn schon öfter aber noch nie in dem Grade in einem solchen Zustand der Erschlaffung gesehen hatte und der nun zu fürchten anfing, daß es wohl gänzlich mit ihm vorbei sein möchte – tat ihm im ganzen Ernst den Vorschlag, daß er ihn totschießen wollte, ehe ein verworfner und schlechter Mensch aus ihm würde, wie jetzt der Fall wäre. – Mit Philipp Reisern, dessen Begriffe ebenfalls romanhaft und überspannt waren, war in solchen Fällen nicht zu spaßen. – Anton Reiser verbat sich also diese Kur noch für jetzt und versicherte, daß er sich wohl noch einmal von seiner jetzigen Erschlaffung wieder erholen würde. –
Indes fing nun seine Lage an, immer mißlicher zu werden – durch die Ausgaben, welche sein Teilnehmen an der Aufführung der Komödien erforderte, die seine Einkünfte weit überstiegen, und durch die Versäumnis der Lehrstunden, welche er gab, stürzte er sich immer tiefer in Schulden und fing bald an den notwendigsten Bedürfnissen des Lebens wieder an Mangel zu leiden, weil er nicht die Kunst gelernt hatte, auf Kredit zu leben. –
Seine Garderobe als Fürst im Edelknaben, die er sich, so wie jeder die seinige, selbst anschaffen mußte, kostete ihm allein so viel, als wovon er einen Monat lang alle seine Ausgaben hätte bestreiten können – und für dies alles erreichte er doch nicht einmal seinen Zweck, sich in einer auffallenden tragischen Rolle zeigen zu können, welches doch eigentlich von jeher sein Wunsch gewesen war. –
Von den drei Stücken, die an einem Abend nacheinander aufgeführt wurden, war Clavigo das erste, der Mann nach der Uhr das zweite, und der Edelknabe blieb bis zuletzt. –
Während daß nun der Clavigo aufgeführt wurde, suchte Reiser in der Anziehstube dicht bei dem Theater so viel wie möglich seine Sinne zu betäuben und sich die Ohren zu verstopfen – jeder Laut, den er vom Theater hörte, war ihm ein Stich durch die Seele – denn hier war es, wo nun eben das schönste Gebäude seiner Phantasie, woran jahrelang gebaut worden war, wirklich scheiterte, und er mußte es selbst mit ansehen, ohne es im mindesten verhindern zu können – er suchte sich mit den beiden Rollen, die er noch zu spielen hatte, zu trösten und alle seine Aufmerksamkeit darauf zu heften, aber es war vergeblich – während daß die Rolle des Clavigo nun von einem andern vor einer solchen Menge von Zuschauern wirklich gespielt wurde, war ihm zumute wie einem, der alle sein Hab und Gut ohne Rettung in den Flammen aufgehen sieht – noch bis zum letzten Tage hatte er immer gehofft, diese Rolle, es koste auch, was es wolle, zu erhalten – nun aber war alles vorbei. –
Und da nun wirklich alles vorbei und Clavigo zu Ende gespielt war, so wurde ihm wieder etwas leichter. – Aber ein Stachel blieb doch immer in seiner Brust zurück. – Er spielte nun im Mann nach der Uhr, worin Iffland den Mann nach der Uhr machte, die Rolle des Magister Blasius mit allem Beifall. – Aber dies war nicht der rechte Beifall, den er sich gewünscht hatte. – Er wollte nicht zum Lachen reizen, sondern durch sein Spiel die Seele erschüttern. – Der Fürst im Edelknaben war nun zwar eine edle, aber doch eine zu sanfte Rolle für ihn – und überdem mißlang es gewissermaßen mit der ganzen Aufführung des Stücks – denn da der Clavigo und der Mann nach der Uhr zu Ende waren, so gingen die meisten Zuschauer weg, weil es schon sehr spät war, und es blieb nicht der dritte Teil da, welche den Edelknaben noch abwarteten – dies und der quälende Gedanke an den Clavigo, den er immer noch nicht unterdrücken konnte, war Ursach, daß Reiser den Fürsten im Edelknaben sehr nachlässig und weit schlechter spielte, als er ihn hätte spielen können – und da nun alles geendigt war, mißvergnügt und traurig nach Hause ging. – Er dachte aber dabei doch noch dereinst seine Lust zu büßen, sich auf dem Theater in einer heftigen und erschütternden Rolle zu zeigen, möchte es auch kosten, was es wolle. – Daß ihm zum ersten Male dieser Genuß versagt war, reizte seine Begierde darnach nur noch stärker und wie konnte er sicherer die Erfüllung seines höchsten Wunsches hoffen, als wenn er das zum eigentlichen Geschäft seines Lebens machte, woran ohnedem schon sein ganzes Herz hing. – Der Gedanke, sich dem Theater zu widmen, bekam daher, statt niedergedrückt zu werden, noch immer mehr Gewalt über ihn. –
Allein so wie man immer zu dem, was man zu tun wünscht, sich selbst die dringendsten Bewegungsgründe zu schaffen sucht, um sein Betragen gleichsam gegen sich selbst zu rechtfertigen – so suchte sich auch Reiser die Bezahlung der kleinen Schulden, die er zu machen verleitet war, als eine so unmögliche Sache und die Entdeckung derselben als etwas so Mißliches vorzustellen, daß er schon dieserwegen sich aus Hannover entfernen zu müssen glaubte. – Aber seine eigentlichen Bewegungsgründe waren der unwiderstehliche Trieb nach Veränderung seiner Lage und die Begierde, sich auf irgendeine Weise so bald wie möglich öffentlich zu zeigen, um Ruhm und Beifall einzuernten, wozu ihm nun freilich nichts bequemer als das Theater scheinen mußte, wo es einem nicht einmal darf zur Eitelkeit angerechnet werden, daß er sich so oft wie möglich zu seinem Vorteil zeigen will, sondern wo die Sucht nach Beifall gleichsam privilegiert ist. –
Indes finden seine kleinen Schulden freilich auch an, ihn zu drücken, wozu noch ein paar Demütigungen kamen, die ihm vollends seinen längern Aufenthalt in Hannover zum Ekel machten. –
Die eine bestand darin, daß ein junger Edelmann, den er unterrichtete, und mit dem er sich auf der Stube desselben manchmal noch ein wenig zu unterhalten pflegte, zu ihm sagte, er habe die Ehre sich ihm zu empfehlen, ehe sich Reiser selbst noch empfohlen hatte. – Es war sehr wahrscheinlich, daß jener wirklich geglaubt hatte, Reiser mache Miene zum Weggehen, und also mit dem Abschiedskomplimente ein wenig zuvorkommend gewesen war – aber eben dies Zuvorkommende war für Reisern so erschrecklich auffallend und drückte auf einmal so sehr sein ganzes Wesen darnieder, daß er, da er schon hinaus war, noch eine Weile still stand und ihm die Arme am Körper niedersanken – dies zuvorkommende ‘ich habe die Ehre mich Ihnen zu empfehlen’ gesellte sich plötzlich in seiner Idee zu dem ‘dummer Knabe!’ des Inspektors auf dem Seminarium, zu dem ‘ich meine Ihn ja nicht!’ des Kaufmanns, zu dem ‘par nobile Fratrum’ der Primaner und zu dem ‘das ist ja eine wahre Dummheit!’ des Rektors. – Er fühlte sich auf einige Augenblicke wie vernichtet, alle seine Seelenkräfte waren gelähmt. – Der Gedanke des auch nur einen Augenblick Lästig-gewesen-seins fiel wie ein Berg auf ihn – er hätte in dem Moment dies irgendeinem Geschöpf außer ihm so lästige Dasein abschütteln mögen. –
Dann ging er aus dem Tore nach dem Kirchhofe, wo der Sohn des Pastor Marquard begraben lag, und weinte bei dessen Grabe die bittersten Tränen des Unmuts und Lebensüberdrusses. – Alles erschien ihm auf einmal in einem traurigen melancholischen Lichte – die ganze Zukunft seines Lebens war düster – er wünschte mit dem Staube vermischt zu sein, den sein Fuß betrat, und dies alles noch wegen des zuvorkommenden ‘ich habe die Ehre mich Ihnen zu empfehlen’. – Diese Worte ließen einen Stachel in seiner Seele zurück, den er vergeblich wieder herauszuziehen suchte – ob er dies gleich sich selber nicht eigentlich gestand, sondern seinen Unmut und Lebensüberdruß aus allgemeinen Betrachtungen über die Nichtigkeit des menschlichen Lebens und die Eitelkeit der Dinge herzuleiten suchte – freilich fanden sich denn auch diese allgemeinen Betrachtungen ein, die aber ohne jene herrschende Idee nur seinen Verstand beschäftigt, nicht aber sein Herz in Bewegung gesetzt haben würden. – Im Grunde war es das Gefühl der durch bürgerliche Verhältnisse unterdrückten Menschheit, das sich seiner hiebei bemächtigte und ihm das Leben verhaßt machte – er mußte einen jungen Edelmann unterrichten, der ihn dafür bezahlte und ihm nach geendigter Stunde auf eine höfliche Art die Türe weisen konnte, wenn es ihm beliebte – was hatte er vor seiner Geburt verbrochen, daß er nicht auch ein Mensch geworden war, um den sich eine Anzahl anderer Menschen bekümmern und um ihn bemüht sein müssen – warum erhielt er gerade die Rolle des Arbeitenden und ein andrer des Bezahlenden? – Hätten ihn seine Verhältnisse in der Welt glücklich und zufrieden gemacht, so würde er allenthalben Zweck und Ordnung gesehen haben, jetzt aber schien ihm alles Widerspruch, Unordnung und Verwirrung. –
Vierter Teil (1790)
Vorrede
Dieser vierte Teil von Anton Reisers Lebensgeschichte handelt so wie die vorigen eigentlich die wichtige Frage ab, inwiefern ein junger Mensch sich selber seinen Beruf zu wählen imstande sei.
Er enthält eine getreue Darstellung von den mancherlei Arten von Selbsttäuschungen, wozu ein mißverstandener Trieb zur Poesie und Schauspielkunst den Unerfahrnen verleitet hat.
Dieser Teil enthält auch einige vielleicht nicht unnütze und nicht unbedeutende Winke für Lehrer und Erzieher sowohl als für junge Leute, die ernsthaft genug sind, um sich selbst zu prüfen, durch welche Merkzeichen vorzüglich der falsche Kunsttrieb von dem wahren sich unterscheidet.
Man sieht aus dieser Geschichte, daß ein mißverstandener Kunsttrieb, der bloß die Neigung ohne den Beruf voraussetzt, ebenso mächtig werden und eben die Erscheinungen hervorbringen kann, welche bei dem wirklichen Kunstgenie sich äußern, welches auch das Äußerste erduldet und alles aufopfert, um nur seinen Endzweck zu erreichen.
Aus den vorigen Teilen dieser Geschichte erhellet deutlich: daß Reisers unwiderstehliche Leidenschaft für das Theater eigentlich ein Resultat seines Lebens und seiner Schicksale war, wodurch er von Kindheit auf aus der wirklichen Welt verdrängt wurde und, da ihm diese einmal auf das bitterste verleidet war, mehr in Phantasien als in der Wirklichkeit lebte – das Theater als die eigentliche Phantasiewelt sollte ihm also ein Zufluchtsort gegen alle diese Widerwärtigkeiten und Bedrückungen sein. – Hier allein glaubte er freier zu atmen und sich gleichsam in seinem Elemente zu befinden.
Und doch hatte er hiebei ein gewisses Gefühl von den reellen Dingen in der Welt, die ihn umgaben, und worauf er auch ungern ganz Verzicht tun wollte, da er doch einmal so gut wie die andern Menschen Leben und Dasein fühlte.
Dies machte, daß er mit sich selbst im immerwährenden Kampfe war. Er dachte nicht leichtsinnig genug, um ganz den Eingebungen seiner Phantasie zu folgen und dabei mit sich selber zufrieden zu sein; und wiederum hatte er nicht Festigkeit genug, um irgendeinen reellen Plan, der sich mit seiner schwärmerischen Vorstellungsart durchkreuzte, standhaft zu verfolgen.
Eigentlich kämpften in ihm so wie in tausend Seelen die Wahrheit mit dem Blendwerk, der Traum mit der Wirklichkeit, und es blieb unentschieden, welches von beiden obsiegen würde, woraus sich die sonderbaren Seelenzustände, in die er geriet, zur Genüge erklären lassen.
Widerspruch von außen und von innen war bis dahin sein ganzes Leben. –
Es kömmt darauf an, wie diese Widersprücke sich lösen werden!
Sollte denn nun, dachte er, nicht endlich einmal die Morgenröte aus jenem Dunkel hervorbrechen? – Und eine trügerische täuschende Hoffnung schien ihm zu sagen, daß er dafür, daß er so lange sich selber zur Qual gewesen, nun auch einmal werde Freude an sich selber haben, und daß die glückliche Wendung seines Schicksals nicht weit mehr entfernt sei.
Sein höchstes Glück aber war nun einmal der Schauplatz; denn das war der einzige Ort, wo sein ungenügsamer Wunsch, alle Szenen des Menschenlebens selbst zu durchleben, befriedigt werden konnte.
Weil er von Kindheit auf zu wenig eigene Existenz gehabt hatte, so zog ihn jedes Schicksal, das außer ihm war, desto stärker an; daher schrieb sich ganz natürlich während seiner Schuljahre die Wut, Komödien zu lesen und zu sehen. – Durch jedes fremde Schicksal fühlte er sich gleichsam sich selbst entrissen und fand nun in andern erst die Lebensflamme wieder, die in ihm selber durch den Druck von außen beinahe erloschen war.
Es war also kein echter Beruf, kein reiner Darstellungstrieb, der ihn anzog: denn ihm lag mehr daran, die Szenen des Lebens in sich als außer sich darzustellen. Er wollte für sich das alles haben, was die Kunst zum Opfer fordert.
Um seinetwillen wollte er die Lebensszenen spielen – sie zogen ihn nur an, weil er sich selbst darin gefiel, nicht weil an ihrer treuen Darstellung ihm alles lag. – Er täuschte sich selbst, indem er das für echten Kunsttrieb nahm, was bloß in den zufälligen Umständen seines Lebens gegründet war. – Und diese Täuschung, wie viele Leiden hat sie ihm verursacht, wie viele Freuden ihm geraubt!
Hätte er damals das sichere Kennzeichen schon empfunden und gewußt, daß, wer nicht über der Kunst sich selbst vergißt, zum Künstler nicht geboren sei, wie manche vergebene Anstrengung, wie manchen verlornen Kummer hätte ihm dies erspart!
Allein sein Schicksal war nun einmal von Kindheit an, die Leiden der Einbildungskraft zu dulden, zwischen welcher und seinem würklichen Zustande ein immerwährender Mißlaut herrschte, und die sich für jeden schönen Traum nachher mit bittern Qualen rächte.
Nach seiner langen Wanderschaft brachte nun Reiser wieder die erste Nacht in Gotha in sanftem Schlummer zu, und als er am andern Morgen früh erwachte, so war es, als ob aus Lisuart und Dariolette ihm der Schluß aus einer Arie, welche die verwünschte Alte singt, entgegentönte:
   Vielleicht ist dies der Morgen,
   Der aller meiner Sorgen
   Erwünschtes Ende bringt.
Während daß diese Zeilen ihm immer in Gedanken schwebten, zog er sich an und erkundigte sich bei seinem jungen Wirt, wo Ekhof wohnte, dem er nun diesen Vormittag seinen Besuch machen wollte.
Zu dem Ende hielt er nun seinen gedruckten Prolog in Bereitschaft, den er in Hannover verfertigt und Iffland gesprochen hatte, und durch welchen er hier vorzüglich Eingang zu finden hoffte.
Der junge Gastwirt Liebetraut nötigte ihn noch vorher mit ihm zu frühstücken und schien an seinem Umgange ein besonderes Vergnügen zu finden, indem er zugleich anfing, ihn zum Vertrauten seiner Herzensgeschichte zu machen, welche darin bestand, daß er den Gasthof gepachtet habe, um ein junges Frauenzimmer, das er liebte, je eher je lieber heiraten zu können.
Reiser ging nun zu Ekhof, und auf dem Wege dahin drängten sich alle seine Entwürfe, die er vom Anfang seiner Wanderung an gemacht, noch einmal wieder in seine Seele zusammen, da er sich so nahe am Ziel seiner Reise sahe; die Melodie und der Vers aus Lisuart und Dariolette tönten noch immer in seine Ohren, und diesmal wenigstens täuschte ihn seine Hoffnung nicht. – Ekhof empfing ihn über Erwartung gut und unterhielt sich beinahe eine Stunde mit ihm.
Reisers jugendlicher Enthusiasmus für die Schauspielkunst schien dem Greise nicht zu mißfallen – er ließ sich mit ihm über Gegenstände der Kunst ein und mißbilligte es gar nicht, daß er sich dem Theater widmen wollte, wobei er hinzufügte, daß es freilich gerade an solchen Menschen fehlte, die aus eigenem Triebe zur Kunst und nicht durch äußere Umstände bewogen würden, sich der Schaubühne zu widmen.
Was konnte wohl aufmunternder für Reisern sein als diese Bemerkung – er dachte sich schon im Geist als einen Schüler dieses vortrefflichen Meisters.
Nun zog er auch seinen gedruckten Prolog hervor, der Ekhofs vollkommnen Beifall erhielt und den sich derselbe sogar von ihm ausbat und bemerkte, wie nahe das Talent zum Schauspieler und zum Dichter miteinander verwandt sei und wie eins gewissermaßen das andere voraussetze.
Reiser fühlte sich in diesem Augenblick so glücklich, als sich ein junger Mensch nur fühlen konnte, der vierzig Meilen weit bei trockenem Brote zu Fuße gereist war, um Ekhof zu sehen und zu sprechen und unter seiner Anführung Schauspieler zu werden.
Was nun sein Engagement anbeträfe, sagte Ekhof, so müsse er sich deswegen vorzüglich bei dem Bibliothekarius Reichard melden, mit welchem er selbst auch Reisers wegen sprechen wolle.
Reiser versäumte keinen Augenblick dieser Anweisung zu folgen und ging von Ekhof, der in einem Bäckerhause wohnte, nach dem Hause des Bibliothekarius Reichard, der ihn zwar auch höflich empfing, aber sich doch nicht so viel wie Ekhof mit ihm einließ. Indes machte er ihm zu einer Debütrolle Hoffnung, welches Reisers höchster Wunsch war, denn wenn er nur dazu käme, zweifelte er nicht, seinen Endzweck zu erreichen.
Mit Heiterkeit im Gesichte kehrte er nun zu Hause, weil er diesen Anfang seiner Unternehmung für höchst glücklich hielt und unter diesen günstigen Umständen sich so viel zutraute, daß nun sein Wunsch ihm nicht mehr fehlschlagen könne.
Und ob er sich gleich seinem Wirt nicht ganz entdeckte, so schien dieser doch gar nicht mehr daran zu zweifeln, daß er nun in Gotha bleiben und seine theatralische Laufbahn hier antreten würde.
Voller Zutrauen zu sich selbst und seinem Schicksale brachte nun Reiser in der Gesellschaft des alten Hauptmanns, des Hoflakaien und seines Wirts den Mittag höchst angenehm zu; und voll von schimmernden Aussichten, worin ihn alles bestärkte, überschritt er durch dies Mittagsessen zum erstenmal im Taumel der Freude den Bestand seiner Kasse und dünkte sich nun dadurch um desto fester an diesen Ort und an die hartnäckigste Verfolgung seines Plans gebunden.
Er machte nun fast täglich bei Ekhof seinen Besuch, und dieser riet ihm, fürs erste die Proben im Schauspielhause fleißig zu besuchen, welches Reiser tat und den alten Ekhof hier ganz in seinem Elemente sahe, wie er auf jede Kleinigkeit aufmerksam war und auch den ersten Schauspielern noch manche Erinnerung gab. Auch wurde Reisern erlaubt, die Komödie unentgeltlich zu besuchen, wo das erste Mal ein gewisser Bindrim mit dem Vater in der Zaire debütierte.
Weil nun dieser keinen besondern Beifall fand und Reiser in sich fühlte, wie bei den meisten Stellen der Ausdruck hätte ganz anders sein müssen, so spornte ihn dies noch mehr an, nun selber so bald wie möglich in einer Debütrolle den Schauplatz zu betreten, und er lag Ekhof dringend an, daß in einem der nächstaufzuführenden Stücke ihm eine Rolle möchte zugeteilt werden.
Und da das nächstemal die Poeten nach der Mode aufgeführt wurden, so tat Reiser den Vorschlag, die Rolle des Dunkel zu übernehmen, welches ihm aber Ekhof aus dem Grunde widerriet, weil er selbst diese Rolle spiele und es für einen angehenden Schauspieler nicht ratsam sei, sich gerade in einer Rolle zuerst zu zeigen, die man schon von einem alten geübten Schauspieler zu sehen gewohnt wäre.
So verschob sich nun sein Debüt von einem Spieltage bis zum andern, während daß seine Hoffnung dazu immer genährt wurde und auf dieser Entscheidung nun sein ganzes Schicksal beruhte.
Bei Ekhof holte sich nun Reiser immer Trost und neue Hoffnung, sooft er anfing verzagt zu werden; denn daß dieser sich gerne mit ihm unterhielt, flößte ihm wieder Selbstzutrauen und neuen Mut ein.
Demohngeachtet aber waren auch ein paar Äußerungen von Ekhof äußerst niederschlagend für ihn; denn als einmal von seinem Engagement die Rede war und Reiser sich auf einen jungen Menschen berief, der in den Poeten nach der Mode die Rolle des Reimreich gespielt hatte, so sagte Ekhof, man habe diesen vorzüglich seiner Jugend wegen angenommen, und schien dadurch zu verstehen zu geben, daß dieser Beweggrund bei Reisern nicht mehr stattfinde; der damals doch auch erst neunzehn Jahr alt war, aber, wie es schien, von jedermann für weit älter gehalten wurde; so daß bei dem Verlust aller Freuden der Jugend auch nicht einmal der Anschein der Jugend geblieben war.
Und ein andermal, als von Goethen gesprochen wurde, sagte Ekhof, er sei ohngefähr von Reisers Statur, aber gut physiognomiert, welches ‘aber’ allein schon den Schauspieler in Reisern ganz vernichtet haben würde, wenn nicht Ekhof gleich darauf zufälligerweise ihm wieder etwas Aufmunterndes gesagt hätte, indem er ihn fragte, ob er außer dem Prolog sonst nichts gedichtet habe? welches Reiser bejahte und, sobald er zu Hause kam, seine Verse, die er auswendig wußte, niederschrieb, um sie Ekhof zu überbringen.
Er brachte wohl ein paar Tage mit dieser Arbeit zu, und sein Wirt geriet auf den Gedanken, daß Reiser ein dramatisches Werk für die Schaubühne verfertigte. – Dies ließ er sich auf keine Weise ausreden und wünschte Reisern schon im voraus Glück zu der glänzenden Laufbahn, die er nun betreten würde.
Als Ekhof die Gedichte gelesen hatte, bezeigte er Reisern seinen Beifall darüber und sagte, er wolle sie auch dem Bibliothekarius Reichard zu lesen geben. Dies war für Reisern eine Aufmunterung ohnegleichen, weil er sich immer noch an Ekhofs ersten Ausspruch erinnerte, wie nahe der Schauspieler und der Dichter aneinander grenzten.
Er zweifelte nun nicht, daß diese Gedichte ihm seinen Weg zum Theater noch mehr bahnen und ihn bald seinem Ziele näher bringen würden. Dazu kam noch, daß der Schauspieler Großmann, welcher sich damals in Gotha aufhielt und Reisern einmal auf der Straße begegnete, ihm neuen Mut zusprach, indem er den Grund anführte, daß man ihn gewiß nicht würde so lange aufgehalten haben, wenn man nicht gesonnen sei, ihn vielleicht ohne Debüt für das Theater zu engagieren; denn es war nun schon in die dritte Woche, daß Reiser sich hier aufhielt.
Diese tröstenden Worte und die freundliche Anrede von Großmann waren damals ein wahrer Balsam für Reisern, der bei dem Schlosse, wo gebauet wurde, einsam auf und nieder ging und gerade mit finsterm Unmut über sein noch ungewisses Schicksal nachdachte.
Reiser ging nun mit guter Hoffnung zu Hause und brachte den Tag bei seinem Wirt noch sehr vergnügt zu.
Am andern Morgen ging er in die Probe, und man führte den Tag gerade die Operette der Deserteur auf, worin ein fremder Schauspieler, namens Neuhaus, den Deserteur und dessen Frau die Lilla spielte.
Ekhof bewies sich bei der Probe besonders geschäftig, und Reiser stand hinter den Kulissen und sahe mit Vergnügen zu, wie durch Anstrengung und Aufmerksamkeit eines jeden einzelnen das schöne Werk entstand, das am Abend die Zuschauer vergnügen sollte.
Er dachte sich lebhaft die Nähe, in der er sich nun bei diesen reizenden Beschäftigungen fand, und daß auf eben diesem Schauplatze mit seinem Spiele sich auch zugleich sein Schicksal entscheiden und seine Existenz auf diesem Flecke sich entwickeln würde. –
Denn auf diesen engumschränkten Schauplatz waren nun nach der weiten Reise alle seine Wünsche beschränkt; hier sah er sich, hier fand er sich wieder. – Hier schloß die Zukunft ihren ganzen reichen Schatz von goldenen Phantasien für ihn auf und ließ ihn in eine schöne und immer schönere Ferne blicken. – –
So hatte er schon oft zwischen den Kulissen in Gedanken vertieft gestanden und stand auch diesmal wieder so, als er auf einmal den Bibliothekarius Reichard auf sich zukommen sah, von dem er schon seit einigen Tagen eine entscheidende Antwort erwartet hatte.
Die Miene desselben verkündigte schon nichts Gutes, und er redete Reisern mit den trocknen Worten an, es täte ihm leid, ihm sagen zu müssen, daß aus seinem Engagement beim Theater nichts werden und daß er auch zur Debütrolle nicht kommen könne. – Mit diesen Worten gab er Reisern die geschriebenen Gedichte zurück, indem er gleichsam zum Trost hinzufügte, es herrsche eine leichte Versifikation darin und er solle dies Talent ja nicht vernachlässigen.
Reiser, der an Leib und Seele gelähmt war, konnte kein Wort hierauf antworten, sondern ging hin, wo das Theater mit seinem letzten Vorhange ganz am Ende an die kahle Mauer grenzt, und stützte sich verzweiflungsvoll mit dem Kopfe an die Wand. Denn er war nun wirklich unglücklich und doppelt unglücklich. –
Der eingebildete und der würkliche Mangel traten in fürchterlicher Eintracht zusammen, um sein Gemüt mit Schrecken und Grauen vor der Zukunft zu erfüllen.
Er sahe nun keinen Ausweg aus diesem Labyrinthe, in welches seine eigene Torheit ihn geleitet hatte – hier war nun die kahle öde Mauer, das täuschende Schauspiel war zu Ende.
Er eilte vors Tor hinaus und ging in der Allee, wo er sich schon oft mit den angenehmsten Vorstellungen beschäftiget hatte, verzweiflungsvoll auf und nieder; die Menschen gingen kalt vor ihm vorbei; niemand wußte, daß er in diesem Augenblick die einzige Hoffnung seines Lebens verloren hatte und einer der verlassensten Menschen war.
Und sonderbar war es, daß gerade in diesem allerverlassensten Zustande sich ein unbekanntes Gefühl von Liebebedürfnis in ihm regte, da seine Verzweiflung in Mitleid mit seinem eigenen Zustande sich verwandelte und ihm nun ein Wesen fehlte, das dieses Mitleid mit ihm haben könnte.
Er getrauete sich den Mittag nicht zu Hause zu gehen, sondern aß nicht und kehrte erst den Nachmittag wieder zurück – und am Abend ging er in die Komödie, wo nun die Operette der Deserteur aufgeführt wurde, die ihm den Tod seiner Hoffnungen bezeichnete.
Nie aber in seinem Leben ist seine Teilnahme an einem fremden Schicksale stärker gewesen, als sie es gerade diesen Abend an dem Schicksale der Liebenden war, welche durch den drohenden Todesstreich getrennt werden sollten. Es traf bei ihm zu, was Homer von den Mädchen sagt, die um den erschlagenen Patroklius weinten, sie beweinten zugleich ihr eigenes Schicksal.
Selbst die Musik rührte ihn bis zu Tränen, und jeder Ausdruck erschütterte sein Innerstes. Am stärksten aber fühlte er sich durch die Szene bewegt, wo der Deserteur, der schon sein Todesurteil weiß, im Gefängnis an seine Geliebte schreiben will und sein betrunkener Kamerad ihm keine Ruhe läßt, weil er ihn ein Wort soll buchstabieren lehren.
Reiser fühlte es hier tief, wie wenig ein Mensch den andern Menschen ist, wie wenig den andern an seinem Schicksal liegt; und sein Freund mit der Hutkokarde stand wieder vor seiner Seele da. Weswegen putzte aber jener seine Hutkokarde, als um seinem Mädchen, der einzigen zu gefallen, die damals seine Göttin war, in der er sich wiederfinden und wieder von ihr geliebt sein wollte.
Das Schauspiel endigte sich froh, die Unglücklichen wurden getröstet, das Weinen verwandelte sich in Lachen, das Trauren in Fröhlichkeit – aber betrübt und mit schwerem Herzen ging Reiser in seine Wohnung – vor ihm war alles dunkel, und er sahe nun keinen Strahl von Hoffnung mehr.
Als er zu Hause kam, legte er sich sogleich zu Bette – seine Sinne waren stumpf – seine Gedanken wußten keinen Ausweg mehr zu finden – und der Schlaf war das einzige, was ihm übrig blieb. – Es war ihm, als ob er aus diesem Schlafe nicht wieder erwachen würde – denn alle Lebensaussichten waren ihm abgeschnitten, und er hatte keine Hoffnung mehr, wozu er erwachen sollte.
Der Gedanke von Auflösung, von gänzlichem Vergessen seiner selbst, von Aufhören aller Erinnerung und alles Bewußtseins war ihm so süß, daß er diese Nacht die Wohltat des Schlafes im reichsten Maße genoß – denn kein leiser Wunsch hemmte mehr die gänzliche Abspannung aller seiner Seelenkräfte; kein Traum von täuschender Hoffnung schwebte ihm mehr vor – alles war nun vorbei und endigte sich in die ewigstille Nacht des Grabes.
So wohltätig reicht die Natur den Hoffnungslosen auch schon die Schale dar, aus der er Vergessenheit seiner Leiden trinken und alle Erinnerungen an irgend etwas, das er wünschte oder wornach er strebte, aus der Seele verwischt werden sollen.
Als Reiser am andern Morgen spät aus seinem tiefen Schlafe erwachte, fühlte er sich wunderbar an Leib und Seele gestärkt – er fühlte Kraft in sich, alles zu unternehmen, um auch selbst unter diesen Umständen noch zum Ziel seiner Wünsche zu gelangen.
Es stieg ein Gedanke in ihm auf, sich hier um Unterrichtsstunden zu bewerben; sich durch seinen eigenen Fleiß zu nähren und auf dem Theater umsonst zu dienen. – Dieser Entschluß wurde immer lebhafter bei ihm, und er traute seinen Kräften alles zu, sobald er nur wieder einen Schimmer von Hoffnung vor sich sahe, sein Ziel zu erreichen.
Während dieser Gedanken zog er sich an und ging zu Ekhof, dem er seinen Entschluß entdeckte und dessen Rat er sich ausbat, indem er versicherte, daß er für sich selbst leben könne, ohne doch von der Art, wie er zu leben dächte, sich etwas merken zu lassen.
Ekhof lobte und billigte seine Standhaftigkeit und sagte ihm, er zweifle nicht, daß dies Anerbieten werde angenommen werden. Der Bibliothekarius Reichard, welchem Reiser eben diesen Entschluß bekannt machte, versprach ihm den andern Tag Bescheid darauf zu geben.
Und nun kehrte Reiser voll neuer Hoffnung wieder zu Hause – sein ganzes Beginnen kam ihm nun selber noch ehrenvoller vor, weil er mit der Kunst zugleich den Fleiß in nützlichen Geschäften und nährendem Erwerb verband – und alle seine übrigen Stunden der Kunst zum Opfer brachte.
Er aß nun diesen Mittag wieder voll Zutrauen bei seinem Wirt – und fühlte in sich einen unwiderstehlichen Mut, der Kunst zuliebe das Härteste im Leben zu ertragen, sich auf die notwendigsten Bedürfnisse einzuschränken und Tag und Nacht nicht zu ruhen, um sich in der Kunst zu üben und zugleich seine Unterrichtsstunden gehörig abzuwarten.
Mit diesen Entschlüssen, die ihm einen recht heroischen Mut einflößten, kam er am andern Morgen wieder zu Reichard und hörte nun sein Endurteil, daß man sich auch auf sein Anerbieten, umsonst auf dem Theater zu dienen, nicht einlassen könne und jetzt schlechterdings kein neues Engagement bei diesem Theater mehr stattfinden solle. – Wenn Reiser einige Wochen eher gekommen wäre, so hätte sich etwas für ihn tun lassen, nun aber sei alles vergeblich. –
Diese ganz unerwartete zweite abschlägige Antwort versetzte Reisern in eine Art von innerer Erbitterung – er fing in diesem Augenblicke an, sich selbst zu hassen und zu verachten, und fragte: ob er denn nicht etwa Souffleur oder Rollenschreiber oder Lichtputzer beim Theater werden könne? – Reichard antwortete: es täte ihm leid, da Reiser so viel Feuer fürs Theater verriete, daß sein Unternehmen ihm hier mißlungen wäre, indes würde es ihm vielleicht anderwärts gelingen.
Reiser ging nun in tiefen Gedanken von Reichard weg, und ging bei dem Bau am Schlosse auf und nieder, wo einige in Schiebkarren Steine zuführten, andere sie ordneten. – Er stand wohl an eine Stunde da und sahe immer dieser Arbeit zu – dabei entstand eine sonderbare Begierde in ihm, sein gutes Kleid auszuziehen und mit den übrigen Tagelöhnern auch Steine zu diesem Bau auf den Schiebkarren herbeizuführen.
Es war schon gegen Mittag, und die Sonne schien immer heißer. – Die Hände der Arbeiter wurden laß – sie ruheten sich aus und verzehrten auf der Erde ihr Mittagsmahl. – Reiser gab sich mit dem einen ins Wort und fragte ihn, wie viel sein Tagelohn betrüge. Es war eine Anzahl Groschen, die Reiser nicht mehr in seinem Vermögen hatte; und das Geld konnte in einem Tage verdient werden.
Der Entschluß, um diesen Tagelohn zu arbeiten, war in dem Augenblicke bei Reisern schon so gewiß, daß er innerlich lachen mußte, daß der Arbeiter, während er mit ihm sprach, die Mütze vor ihm abnahm und nicht wußte, daß sie vielleicht morgen Kameraden sein würden.
Das einzige, was seine Erbitterung und Selbsthaß und Selbstverachtung mildern konnte, war dieser Entschluß, worin er sich selbst wieder ehrte. Denn nun wollte er seinen wahren Zustand seinem Wirt entdecken, seinen Degen, sein Kleid ihm für die Bezahlung lassen und dann beim Schloßbau Steine zuführen.
Während nun dies in seinen Gedanken vorging, glaubte er selbst, es sei sein wahrer Ernst, und wußte nicht, daß seine Einbildungskraft ihn wieder täuschte und daß er schon wieder in Gedanken eine Rolle spielte.
Denn als Handlanger beim Schloßbau war er nun das Niedrigste, was er nur sein konnte; diese selbstgewählte freiwillige Niedrigkeit hatte einen außerordentlichen Reiz für ihn – er lebte nun wie die übrigen von seinem Stande, ging des Sonntags fleißig in die Kirche und war ein stiller religiöser Mensch – in einsamen Stunden ergötzte er sich denn mit Shakespeare und Homer und hatte dasjenige reelle Leben in sich, was er nicht außer sich haben konnte.
Besonders rührend war ihm bei dergleichen Vorstellungen immer der Gedanke, daß er am Sonntage fleißig in die Kirche gehen und dem Prediger recht aufmerksam zuhören würde. – Denn hierdurch vernichtete er gleichsam sich selbst, weil er alles, was auch der schlechteste Prediger ihm sagen würde, doch für sich noch sehr lehrreich hielt, und nicht klüger als der einfältigste Mensch sein wollte.
Er dachte sich nun wieder in dem Zustande, worin er als Hutmacherbursch gewesen war, wo er den Prediger, der ihm gefiel, wie ein Wesen höherer Art und selbst die Chorschüler auf der Straße mit Ehrfurcht betrachtete. Vom Theater durfte er in diesem Zustande kaum einen Begriff haben – und doch war es ihm wieder, als ob eben dieser Zustand auf eine wunderbare Weise ihn seinem ersten Wunsche vielleicht wieder näher bringen könnte.
Ehe er sich nun aber um die Stelle eines Tagelöhners bei dem Bau am Schlosse wirklich bewarb, konnte er doch nicht unterlassen, noch einmal zu Ekhof zu gehen, um ihm Lebewohl zu sagen und ihm zugleich zu erzählen, daß auch seine letzte Hoffnung gescheitert sei.
Er konnte diese Erzählung nicht ohne Beklemmung und Rührung vorbringen, weil er sich seinen ganzen nunmehrigen Zustand und also weit mehr dabei dachte, als er sagte. –
Der gute Ekhof redete ihm zu: er solle den Mut nicht sinken lassen; drei Meilen von hier in Eisenach sei jetzt die Barzantische Truppe; es würde ihm nicht fehlen, bei dieser Truppe angenommen zu werden; er solle sich bei derselben nur erst eine Weile zu üben suchen und dann wieder nach Gotha kommen, wo vielleicht günstigere Umstände sich für ihn ereignen und seine Aufnahme desto leichter sein würde, wenn er schon eine zeitlang bei einer Truppe gestanden hätte – er könne dies ja leicht versuchen und den Weg von Gotha bis Eisenach auf der Chaussee wie einen Spaziergang machen.
Mit dieser Anrede von Ekhof war auf einmal das ganze Projekt mit dem Steinezuführen und dem Arbeiten ums Tagelohn aus Reisers Gedanken verschwunden. – Denn das Ziel, wohin er doch am Ende wollte, sahe er auf einmal wieder nahe vor sich, und alle Bedenklichkeiten hörten auf, da er sich den Weg von Gotha nach Eisenach wie einen Spaziergang dachte, wodurch er gar keine Untreue an seinem Wirt beging, dem er von Eisenach als Schauspieler doch eher und leichter wie von seiner Tagelöhnerarbeit bezahlen konnte.
Er ging also, da es hoch Mittag war, aus Ekhofs Hause, so wie er war und ohne sich umzusehen, gerade auf Eisenach zu. Und dieser Weg wurde ihm nun auch würklich so leicht wie ein Spaziergang. Denn alle die erstorbenen Hoffnungen waren nun auf einmal in seiner Seele wieder erneuert und machten einen lebhaften und angenehmen Kontrast gegen die melancholischen Ideen, womit er sich an diesem Vormittage noch zum Tagelöhner hatte verdingen wollen.
Er dachte sich immer nahe bei Gotha, und wie er am andern Tage zurückkehren und seinem Wirte eine angenehme Nachricht bringen würde. Dies machte, daß die Schönheiten der Natur ihn wieder ergötzten; er wandelte mit innigem Vergnügen durch die romantischen Täler zwischen den Bergen hin, und als er die Türme der alten Wartenburg, von der er schon in seiner Kindheit gehört hatte, zuerst erblickte, so umfaßte sein Gemüt die Gegenstände umher mit einer Wärme und Anschließung, die ihm alles doppelt schön machte; es war ihm, als ob er in einem süßen Traume schwebte, worin, was er ehmals gedacht hatte, eins nach dem andern sich ihm nun würklich darstellte.
Es war ihm, als ob er allenthalben sein könnte, wo er wollte, da er sich so auf einmal in wenigen Stunden von Gotha nach Eisenach versetzt sahe, woran er den Morgen desselbigen Tages noch gar nicht gedacht hatte.
Seinen Überrock und andre Sachen, die er sonst bei sich trug, hatte er zu Hause gelassen und wanderte in seinem besten Anzuge mit dem Degen an der Seite, so wie er bei Reichard und Ekhof seinen Besuch gemacht hatte, in Eisenach ein. Zufälligerweise steckten seine geschriebenen Gedichte und der lateinische Anschlagbogen, worauf sein Name stand, noch in seiner Rocktasche, der Homer aber und ein Teil der Wäsche, die er bei sich trug, war samt dem Überrocke zurückgeblieben.
Als er in die Stadt kam, schien ihm alles ein frohes und heiteres Ansehn zu haben; die Menschen schienen gleichsam zur Freude gestimmt zu sein, so daß er mit lauter frohen Ahndungen in den Gasthof trat, wo er die Nacht bleiben wollte und sich, nachdem er sich kaum niedergesetzt hatte, erkundigte, ob diesen Abend nicht etwa Komödie gespielt würde?
Welch ein Donnerschlag war es für ihn, als man ihm antwortete: die Barzantische Schauspielergesellschaft sei gerade diesen Morgen nach Mühlhausen abgereist! – Also war es nun, als ob ein feindseliges Schicksal ihm immer auf dem Fuße nachfolgte und ordentlich wie mit Absicht alle seine Hoffnungen vereitelte.
Dazu kam nun wieder, daß er nicht nur in der Einbildung, sondern wirklich und doppelt unglücklich war, weil die einzige Hoffnung, seinen Unterhalt zu finden und zugleich seine Schuld in Gotha zu tilgen, auf seiner Annahme bei der Barzantischen Truppe in Eisenach beruhte und diese nun gerade an demselben Tage ihren Weg ebendahin genommen hatte, wo er hergekommen war.
Sein Zustand brachte ihn der Verzweiflung nahe und machte, daß er zum erstenmal sich über sein Schicksal wegsetzte und in eine Art von Vergessenheit seiner selbst geriet, welche ihn dem Anscheine nach froh und aufgeräumt machte. – Dabei war es ihm, als ob er durch diesen gar zu unerwarteten und hämischen Streich des Schicksals von allen Verbindungen losgesprochen wäre und sich nun selbst wie ein vernachlässigtes und verworfenes Wesen ansehen dürfe, das in gar keinen Betracht mehr kömmt.
Er hatte den ganzen Tag nichts genossen und ließ sich den Abend Bier und Brot und auf die Nacht ein Bette geben, wo er des sanftesten Schlafes genoß, weil er auf keine Zukunft mehr rechnete und von keinem einzigen Gedanken an die Zukunft oder an sein eigenes Schicksal mehr gestört wurde, denn nun war er mit seinen Aussichten ganz am Ende.
Am andern Morgen aber fühlte er, daß dieser wohltätige Schlaf aufs neue seine schlummernden Kräfte erweckt hatte – er fühlte wieder statt der Lähmung einen gewissen Trotz und Erbitterung gegen das Schicksal, wodurch er Mut bekam, noch einmal alles zu dulden und alles zu wagen, um seinen Endzweck dennoch zu erreichen: er entschloß sich, der Barzantischen Schauspielergesellschaft nachzureisen und von Eisenach bis Mühlhausen denselben Weg, den er gekommen war, wieder zurückzugehn.
Nachdem er nun in dem Gasthofe seine Zeche bezahlt hatte, so blieben ihm von seinem ganzen Vermögen noch fünf oder sechs Dreier übrig, womit er auf die Wartenburg stieg und von da die weite und schöne Gegend vor sich übersahe.
Der Unteroffizier auf der Wartenburg redete Reisern sehr höflich an und fragte ihn, ob er nicht die Merkwürdigkeiten besehen wollte? worauf Reiser erwiderte: er würde den Nachmittag mit einer Gesellschaft wiederkommen, jetzt wolle er sich nur in der Gegend ein wenig umsehen.
Er fühlte sich, indem er um sich her blickte, auf diesem Standpunkte über sein Schicksal erhaben; denn aller Widerwärtigkeiten ohngeachtet war er doch bis auf diesen Fleck gekommen, und diesen schönen Moment einer reizenden Aussicht in die umgebende Natur konnte ihm doch niemand rauben. Er sammlete sich gleichsam Stärke zu der Mühe und sorgenvollen Wanderschaft, die er nun aufs neue wieder antreten wollte.
Sein Plan, den er sich hiezu entworfen hatte, bestand in nichts Geringerm, als die wenigen Dreier, die ihm noch übrig waren, bloß zu Schlafgeld anzuwenden und bei Tage sich von den Wurzeln auf dem Felde zu nähren, denn er hatte es auf dem Herwege von Gotha schon einmal versucht, ein paar Wurzeln auf dem Felde auszuziehen, die ihm, da er den ganzen Tag nichts genossen hatte, eine sehr angenehme Erquickung gewährten.
Hieran hatte er sich hier gleich den Morgen beim Erwachen erinnert, und dies war es vorzüglich, was ihm den Trotz gegen das Schicksal einflößte, von dem er sich nun beinahe ganz unabhängig dachte.
Er fing noch an diesem Tage an, seinen Entschluß mit eben dem Selbstgefühl durchzusetzen, womit er auf seiner ersten Wanderung sich auf den bloßen Genuß von Bier und Brot beschränkte, und fühlte sich nun doppelt so unabhängig wie damals; denn während daß der Unteroffizier auf der Wartenburg ihn mit der Gesellschaft zurückerwarten mochte, um ihm die Merkwürdigkeiten des Schlosses zu zeigen, verzehrte Reiser schon auf dem Felde sein Mahl von rohen Wurzeln, die er sich mit einem alten Einlegemesser, das er noch von seinem Freunde Philipp Reisern besaß, in Scheiben schnitt und sie mit dem größten Wohlgeschmack verzehrte.
Nun war er aber, weil er sich zu lange auf der Wartenburg aufgehalten hatte, kaum erst eine Meile von Eisenach, und ihn überfiel, da er seine Wurzeln verzehrt hatte, eine unwiderstehliche Trägheit, so daß er mitten auf dem Felde einschlief und erst am Abend bei Sonnenuntergang wieder erwachte.
Da er nun nach dem nächsten Dorfe zugehen wollte, so kam er vom rechten Wege ab und erreichte erst spät einen Gasthof, wo er nichts verzehrte, sondern am andern Morgen bloß die Streu bezahlte.
Von diesem Dorfe aus verirrte er sich am andern Tage wieder zwischen den Feldern, wo er Wurzeln suchte, die gestrige Trägheit überfiel ihn wieder, die Hitze war drückend, und wo er den Schatten eines Baumes fand, da legte er sich nieder, und sogleich überfiel ihn der Schlaf; so daß er auf dem Wege von Eisenach bis Gotha, den er auf der Hinreise in wenigen Stunden zurückgelegt hatte, beinahe vier Tage zubrachte.
So labyrinthisch wie sein Schicksal war, wurden auch nun seine Wanderungen, er wußte sich aus beiden nicht mehr herauszufinden; vor Gotha schien sich seine Straße zurückzubiegen, und er mußte doch wieder durch, wenn er seinen Weg nach Mühlhausen fortsetzen wollte; und weil er nun die gerade Straße scheute, so war es ihm gewissermaßen lieb, wenn er sich verirrte.
Sein lateinischer Anschlagbogen half ihm auf diesem Wege zweimal durch; einmal, da man ihn für eine verdächtige Person hielt, weil er keinen Paß vorzeigen könnte; und ein andermal, da man einen Paß von ihm verlangte, daß er nicht aus einer Gegend käme, wo damals die Viehseuche herrschte; er zeigte seinen lateinischen Anschlagbogen vor und fügte hinzu, daß er ein Student sei und deswegen einen lateinischen Paß bei sich führe. – Der Dorfrichter oder Schulze des Orts, welcher sich gegen seine Frau und die andern Bauren das Ansehen geben wollte, als ob er Latein verstände, las mit einer wichtigen Miene den Anschlagbogen durch und sagte, es sei recht gut!
Während nun Reiser diese Tage in einer Art von Betäubung gleichsam wie in der Irre umherging, herrschte bloß die Imagination in ihm; denn da er nun auf dem Felde lebte, so schien er sich an gar nichts mehr gebunden und ließ seiner Einbildungskraft den Zügel schießen.
Nun war ihm aber sein Schicksal nicht romanhaft genug. Daß er hatte Schauspieler werden wollen und sein Wunsch ihm mißlungen war, das war eine abgeschmackte Rolle, die er spielte – er mußte irgendein Verbrechen begangen haben, das ihn in der Irre umhertrieb; ein solches Verbrechen dachte er sich nun aus: er stellte sich vor, daß er mit dem jungen Edelmann, den er in Hannover unterrichtete, die Universität in Göttingen bezogen und von diesem im Trunk zum Zweikampf genötigt worden wäre, wo er sich bloß verteidigte und jener wütend in seinen Degen gerannt sei, worauf er die Flucht genommen habe, ohne zu wissen, ob jener tot oder lebend sei.
Diese von ihm selbst gemachte Erdichtung drängte sich ihm bei seinem Herumirren im Felde fast wie eine Wahrheit auf; er träumte davon, wenn er einschlief; er sah seinen Gegner im Blute liegen, er deklamierte laut, wenn er erwachte, und spielte auf die Weise mit seiner Phantasie mitten auf dem Felde zwischen Gotha und Eisenach die Rollen durch, welche man ihm auf dem Theater verweigert hatte.
Und dies allein war es, was ihn von der Verzweiflung rettete; denn hätte er sich seinen Zustand völlig so leer und abgeschmackt gedacht, wie er wirklich war, so würde er sich selbst ganz weggeworfen haben und in Schmach versunken sein.
Nun aber wurde ihm das Bitterste erträglich: am zweiten Tage auf seiner Rückkehr von Eisenach nach Gotha war es gerade Sonntag und eine drückende Hitze. Reiser kam vom Felde durch ein Dorf und suchte Schatten, den er nicht anders finden konnte als auf einem grünen mit Bäumen bepflanzten Platze gerade der Kirche gegenüber. Er ließ sich in einem Bauerhause erst ein Glas Wasser geben; dann legte er sich unter den Bäumen nieder, während daß in der Kirche gegenüber gesungen wurde; unter dem Singen schlief er ein und wachte nicht eher wieder auf, als bis der Prediger aus der Kirche kam, mit dem sein Sohn ging, der auch erst von der Universität zurückgekommen war. Beide gingen auf Reisern zu und fragten ihn, woher er käme und wohin er ginge? er gab verwirrte Antworten und gestand endlich, daß er wegen eines Duells, das er in Göttingen gehabt habe, flüchtig sei. Es war ihm selber, als ob ihm dies Geständnis äußerst schwer würde, und der Gedanke an die Unwahrheit der Sache fiel ihm fast gar nicht mehr bei: denn da er einmal bloß in der Ideenwelt lebte, so war ihm ja alles das wirklich, was sich einmal fest in seine Einbildungskraft eingeprägt hatte; ganz aus allen Verhältnissen mit der wirklichen Welt hinausgedrängt, drohte die Scheidewand zwischen Traum und Wahrheit bei ihm den Einsturz.
|